„Elli muß meiner Meinung nach schon diesen Herbst in die Schule … meiner Meinung nach ist es jetzt nicht mehr zu vermeiden … wenn sie für immer hier zu Hause bleibt, lernt sie nie menschliche Manieren. Hast du gesehen, wie sie sich im Beisein der Gäste verhalten hat … man muß sich für sie schämen, und wir werden sehen, ob man sie noch ändern kann. Aber man muß sein Bestes versuchen!“
„An welche Schule dachtest du …“
„Wenn genug Geld da wäre, würde ich sie in das gleiche Pensionat schicken, in dem Tyyra ist, aber das wird zu teuer. Aber ich habe gedacht – und August war der gleichen Meinung –, daß es angebracht wäre, Elli in die schwedische Schule der Stadt zu schicken, wo beinahe nach der gleichen Methode unterrichtet wird wie in der Hauptstadt. Und ich finde, daß es eine gute Methode ist.“
„Aber ist sie denn so gut?“
„Warum sollte sie es nicht sein?“
„Ja, ich weiß ja nicht mehr als das, was ich gesehen habe. Es gefiel mir nicht sehr – ich weiß nicht, ob es die Schuld der Schule oder der Eltern ist, aber mir gefiel die Erziehung dieser Tyyra nicht sehr …“
„Sie gefiel dir nicht? Das ist aber komisch! Meiner Meinung nach ist sie eines der am besten erzogenen Mädchen, die ich je gesehen habe! Wenn ich Elli die gleiche Erziehung angedeihen lassen könnte, wäre ich glücklich … Das … das wundert mich wirklich sehr!“
Anfangs wollte Elli es gar nicht glauben, daß man sie in die Schule schicken würde, daß sie eine lange Reise machen, auf einem Dampfschiff fahren und in die Stadt kommen würde. Aber als die Mutter ihr dann versicherte, daß der Vater es beschlossen hatte, hüpfte das Mädchen vor Freude über den Boden.
„Findest du es so schön?“
„Ja, ja! … Ich kann ja sonst nie so weit, kaum weiter als bis dahin, wo die Landstraße verschwindet … und mit einem Dampfschiff?“
„Ja, und du wirst die Stadt sehen.“
„Ich werde die Stadt sehen!“ Das klang auch sehr schön, auch wenn sie sich noch nicht richtig vorstellen konnte, was für eine Stadt es war. Aber sie kam nicht dazu, darüber nachzudenken.
Sie drehte sich auf dem Absatz um, eilte hinaus und rannte an den Strand zu ihrem Boot. Und dort ließ sie mit dem Riemen das Wasser spritzen … höher als je zuvor. Sie blieb aber nicht lange am Strand. Sie sah auf der Wiese am Waldrand die Kälber und eilte zu ihnen. Als sie dort mit wehendem Rock angekommen war, jauchzte sie vor Freude, klatschte in die Hände, so daß die Tiere erschraken und in alle Richtungen auseinanderstoben.
In der Nacht konnte sie nicht schlafen. Alles mögliche ging ihr durch den Kopf, aber nichts blieb haften. Vor allem die Stadt wurde nicht greifbar. Endlich begann sie aber doch zu begreifen, daß die Stadt sich auf einem hohen Hügel befand … so wie Iinmäki … auf dem viele Häuser standen, deren Dächer im Tageslicht schimmerten und deren Fenster glänzten … Und dieses Bild blieb ihr im Gedächtnis, so fest, daß sie die Mutter beim Frühstück nicht genauer danach fragte.
Dienstag, 31. Oktober 2023
Sonntag, 29. Oktober 2023
3. Kapitel (I)
„Sie werden dort im Pensionat in jeder Hinsicht so gut erzogen“, sagten die Eltern. Und ihre Tochter wurde dadurch immer höflicher, so sehr, daß ihre Mutter ihr schließlich sagen mußte, sie sollte auch an sich denken und nicht nur an andere.
Nach ein paar Tagen reisten die Gäste wieder ab, und Elli war zutiefst erleichtert, als sie Lebewohl gesagt hatten, in ihrem Wagen saßen und die fremde Dame sie nicht küssen wollte.
Der Vater ging um den Wagen herum, schloß selbst die Kutschentüren und begleitete ihn bis zur Pforte. Und Elli hörte, wie er zu dem fremden Mädchen sagte, daß er hoffe, sie habe sich nicht zu sehr gelangweilt, obwohl ihr eine passende Kameradin gefehlt hatte.
Die Gäste hatten noch nicht einmal die Landstraße erreicht, da rannte Elli schon an den Strand, setzte sich ins Boot und ließ das Wasser mit dem Ruder hoch aufspritzen, fast höher als das Dach des Schuppens. Und erst da wurde ihr richtig bewußt, daß die Gäste gegangen waren.
Nachdem der Vater die Pforte geschlossen hatte, ging er in sein Zimmer, zündete seine Pfeife an und ging rauchend auf und ab. Dann setzte sich in seinen Schaukelstuhl und rief die Mutter aus dem Nebenzimmer zu sich.
Nach ein paar Tagen reisten die Gäste wieder ab, und Elli war zutiefst erleichtert, als sie Lebewohl gesagt hatten, in ihrem Wagen saßen und die fremde Dame sie nicht küssen wollte.
Der Vater ging um den Wagen herum, schloß selbst die Kutschentüren und begleitete ihn bis zur Pforte. Und Elli hörte, wie er zu dem fremden Mädchen sagte, daß er hoffe, sie habe sich nicht zu sehr gelangweilt, obwohl ihr eine passende Kameradin gefehlt hatte.
Die Gäste hatten noch nicht einmal die Landstraße erreicht, da rannte Elli schon an den Strand, setzte sich ins Boot und ließ das Wasser mit dem Ruder hoch aufspritzen, fast höher als das Dach des Schuppens. Und erst da wurde ihr richtig bewußt, daß die Gäste gegangen waren.
Nachdem der Vater die Pforte geschlossen hatte, ging er in sein Zimmer, zündete seine Pfeife an und ging rauchend auf und ab. Dann setzte sich in seinen Schaukelstuhl und rief die Mutter aus dem Nebenzimmer zu sich.
Samstag, 28. Oktober 2023
3. Kapitel (H)
Die beiden Mädchen wurden nicht die besten Freundinnen, obwohl der Vater in den Tagen, die die Gäste in seinem Haus verbrachten, alles versuchte, sie zusammenzubringen. Nach der Meinung des Vaters war das fremde Mädchen ein Beispiel für ein gut erzogenes Kind und seine eigene Tochter für ein schlecht erzogenes. Das trat immer deutlicher zutage. Die eine verhielt sich liebenswürdig, von der anderen konnte man gar nicht sagen, daß sie sich überhaupt verhielt … sie war einfach nur da, mürrisch, und antwortete kaum darauf, was man sie fragte, wohingegen das fremde Kind sich an Gesprächen beteiligte und immer bereit war zu antworten. Vor allem am Eßtisch zeigte sich der Unterschied. Man brauchte kaum noch eine Dienerin bei Tisch. Tyyra merkte, wenn jemand, vor allem der Vater oder die Mutter, kein Brot mehr hatte, und gab es ihnen, gemeinsam mit Butter, Käse oder Lachs. Der Vater lobte sie, als es alle hörten, und befahl Elli, sich ein Beispiel an ihr zu nehmen.
Freitag, 27. Oktober 2023
3. Kapitel (G)
Als sie nebenan die Tassen auf das Tablett stellte, sah sie Elli und das fremde Mädchen in der Kutsche. Das Mädchen zeigte Elli seine Puppe, aber Elli wirkte nicht sehr interessiert … sie sah abwechselnd das Mädchen und die Puppe an und schien beide seltsam zu finden.
„Heißt du Tyyra?“ fragte sie plötzlich.
„Ich heiße Tyyra Hedvig.“
„Deine Mutter hat dich doch anders genannt … wie hat sie dich genannt?“
„Schätzchen? Meinst du das? Das sagt Mutter immer zu mir, weil ich so ein braves Mädchen bin.“
„Was sagt sie denn, wenn du ungezogen bist?“
„Ich bin nie ungezogen … Die Lehrerin in der Schule sagt, ich sei das beste Mädchen in der ganzen Klasse … ich bin der Primus …“
„Was ist das?“
„Weißt du nicht, was ein Primus ist? Warst du nie in der Schule?“
„Nein …“
„Oh, oh, das ist aber traurig … Gehen wir den Garten und pflücken Blumen für Aini … habt ihr Rosen? Aini liebt Rosen …“
„Wir haben keine Rosen … du kannst Erbsenblüten haben, wenn du willst.“
„Die gefallen Aini nicht …“
„Willst du hinten im Boot sitzen? Dann gehen wir an den Strand!“
„Ich gehe Mutter fragen, vorher komme ich nicht mit … man muß immer vorher seine Mutter fragen …“
„Dann gehe ich nicht, wenn du fragst.“
„Warum nicht?“
„Darum! Ich schade doch keinem damit, wenn ich einfach gehe …“
„Ein braves Mädchen fragt immer seine Mutter, bevor es irgendwo hingeht.“
Elli sah ihre Freundin eine Weile wortlos an, dann sagte sie: „Du tust nur so!“
„Ich gehe zu Mutter und nehme Aini mit“, sagte die andere beleidigt und ging.
„Heißt du Tyyra?“ fragte sie plötzlich.
„Ich heiße Tyyra Hedvig.“
„Deine Mutter hat dich doch anders genannt … wie hat sie dich genannt?“
„Schätzchen? Meinst du das? Das sagt Mutter immer zu mir, weil ich so ein braves Mädchen bin.“
„Was sagt sie denn, wenn du ungezogen bist?“
„Ich bin nie ungezogen … Die Lehrerin in der Schule sagt, ich sei das beste Mädchen in der ganzen Klasse … ich bin der Primus …“
„Was ist das?“
„Weißt du nicht, was ein Primus ist? Warst du nie in der Schule?“
„Nein …“
„Oh, oh, das ist aber traurig … Gehen wir den Garten und pflücken Blumen für Aini … habt ihr Rosen? Aini liebt Rosen …“
„Wir haben keine Rosen … du kannst Erbsenblüten haben, wenn du willst.“
„Die gefallen Aini nicht …“
„Willst du hinten im Boot sitzen? Dann gehen wir an den Strand!“
„Ich gehe Mutter fragen, vorher komme ich nicht mit … man muß immer vorher seine Mutter fragen …“
„Dann gehe ich nicht, wenn du fragst.“
„Warum nicht?“
„Darum! Ich schade doch keinem damit, wenn ich einfach gehe …“
„Ein braves Mädchen fragt immer seine Mutter, bevor es irgendwo hingeht.“
Elli sah ihre Freundin eine Weile wortlos an, dann sagte sie: „Du tust nur so!“
„Ich gehe zu Mutter und nehme Aini mit“, sagte die andere beleidigt und ging.
3. Kapitel (F)
Und die Dame lächelte noch mehr, und als das Mädchen hinausgegangen war und der Vater Elli befohlen hatte, mitzugehen, konnte sie es sich nicht verkneifen, noch einmal das Gleiche zu erzählen – daß es ganz eigenartig sei, zu sehen, daß Tyyra ihre Puppe keinen Moment vergessen habe, sie kümmerte sich um sie, zog sie an und aus, befahl ihr, still zu sein, damit ihr Kindermädchen nicht aufwachte …
„Du hast eine sehr nette kleine Tochter“, sagte der Vater zu seinem alten Schulfreund.
Tyyra war ihr einziges Kind, sagte der Herr und die Dame … sie konnten sich keinen Augenblick von ihr trennen .. sie nahmen sie immer mit, wenn sie wegfuhren … doch sobald sie nach Hause kamen, mußten sie sich von ihr trennen, denn Tyyra mußte wieder zur Schule … und sie waren trauriger als das Kind selbst.
„Ach … die Herrschaften lassen ihre Tochter in die Schule gehen?“ fragte die Mutter.
„Ja, das ist doch notwendig. Wir haben beschlossen, unserem Kind die vollkommenste Erziehung zuteil werden zu lassen, wie wir nur können, und zu Hause kann sie nicht das lernen, was von einem gebildeten Menschen erwartet wird …“
„Das mag sein“, sagte die Mutter.
„Geht deine Elli noch nicht zur Schule?“ fragte der Herr den Vater.
„Nein, sie … noch nicht … Ich habe schon ein wenig darüber nachgedacht …“
„Tyyra geht schon seit zwei Jahren zur Schule, und wir haben wirklich gemerkt, daß sowohl ihre Kenntnisse als auch ihre sonstige Entwicklung, geistig und körperlich, vor allem, wenn sie unter Menschen ist, große Fortschritte gemacht haben.“
„Ja, man merkt wirklich in jeder Hinsicht, daß sie gut erzogen ist“, sagte der Vater. „Auf welcher Schule ist sie denn?“
„Es ist die beste Schule in unserem Land, die deutsche Mädchenschule in der Hauptstadt.“
„Das ist sicher teuer?“
„Ja“, sagte der Herr, „aber unserer Meinung nach ist es die Pflicht der Eltern, dem Kind eine Erziehung angedeihen zu lassen, die wie gesagt den Anforderungen der Zeit entspricht, in der wir leben, oder vielleicht eine noch bessere. Und es ist notwendig für ein Mädchen, dessen Wirkungskreis und Lebenszweck die Ehe ist, auf der sie alles aufbaut. Darum ist es nötig, daß sie, wenn sie heiratet …“
„Nun, August“, wies ihn seine Frau zurecht, „jetzt fängst du schon wieder davon an – es ist noch zu früh, um darüber zu reden …“
„Sag das nicht, Mama, nichts ist zu früh, wenn es um das Glück des Kindes geht.“
„Ja, ja, das stimmt.“
„Nun, was wollten Sie sagen – wenn sie heiratet?“ fragte die Mutter.
„Daß eine Ehefrau, die eine gute Bildung genossen hat, ihren Mann und ihre Familie viel besser glücklich machen kann als ohne – das habe ich in meinem Beruf als Pfarrer oft genug bemerkt, und deshalb habe ich …“
„Das ist völlig richtig, das ist völlig richtig“, sagte der Vater beinahe eifrig, doch die Mutter saß eine Weile da und starrte ernst vor sich hin. Dann stand sie auf und ging nachsehen, ob der Kaffee schon fertig war.
„Du hast eine sehr nette kleine Tochter“, sagte der Vater zu seinem alten Schulfreund.
Tyyra war ihr einziges Kind, sagte der Herr und die Dame … sie konnten sich keinen Augenblick von ihr trennen .. sie nahmen sie immer mit, wenn sie wegfuhren … doch sobald sie nach Hause kamen, mußten sie sich von ihr trennen, denn Tyyra mußte wieder zur Schule … und sie waren trauriger als das Kind selbst.
„Ach … die Herrschaften lassen ihre Tochter in die Schule gehen?“ fragte die Mutter.
„Ja, das ist doch notwendig. Wir haben beschlossen, unserem Kind die vollkommenste Erziehung zuteil werden zu lassen, wie wir nur können, und zu Hause kann sie nicht das lernen, was von einem gebildeten Menschen erwartet wird …“
„Das mag sein“, sagte die Mutter.
„Geht deine Elli noch nicht zur Schule?“ fragte der Herr den Vater.
„Nein, sie … noch nicht … Ich habe schon ein wenig darüber nachgedacht …“
„Tyyra geht schon seit zwei Jahren zur Schule, und wir haben wirklich gemerkt, daß sowohl ihre Kenntnisse als auch ihre sonstige Entwicklung, geistig und körperlich, vor allem, wenn sie unter Menschen ist, große Fortschritte gemacht haben.“
„Ja, man merkt wirklich in jeder Hinsicht, daß sie gut erzogen ist“, sagte der Vater. „Auf welcher Schule ist sie denn?“
„Es ist die beste Schule in unserem Land, die deutsche Mädchenschule in der Hauptstadt.“
„Das ist sicher teuer?“
„Ja“, sagte der Herr, „aber unserer Meinung nach ist es die Pflicht der Eltern, dem Kind eine Erziehung angedeihen zu lassen, die wie gesagt den Anforderungen der Zeit entspricht, in der wir leben, oder vielleicht eine noch bessere. Und es ist notwendig für ein Mädchen, dessen Wirkungskreis und Lebenszweck die Ehe ist, auf der sie alles aufbaut. Darum ist es nötig, daß sie, wenn sie heiratet …“
„Nun, August“, wies ihn seine Frau zurecht, „jetzt fängst du schon wieder davon an – es ist noch zu früh, um darüber zu reden …“
„Sag das nicht, Mama, nichts ist zu früh, wenn es um das Glück des Kindes geht.“
„Ja, ja, das stimmt.“
„Nun, was wollten Sie sagen – wenn sie heiratet?“ fragte die Mutter.
„Daß eine Ehefrau, die eine gute Bildung genossen hat, ihren Mann und ihre Familie viel besser glücklich machen kann als ohne – das habe ich in meinem Beruf als Pfarrer oft genug bemerkt, und deshalb habe ich …“
„Das ist völlig richtig, das ist völlig richtig“, sagte der Vater beinahe eifrig, doch die Mutter saß eine Weile da und starrte ernst vor sich hin. Dann stand sie auf und ging nachsehen, ob der Kaffee schon fertig war.
Dienstag, 24. Oktober 2023
3. Kapitel (E)
Auch die Mutter kam herein und setzte sich an den Rand der Veranda.
„Das ist unsere Tochter … Elli, warum stehst du da in der Tür?“
Elli ging den Gästen die Hand geben.
„Guten Tag, kleine Elli, wie geht es dir? Nun? Möchtest du keinen Kuß?“
Elli hatte den Kopf weggezogen, als die fremde Dame sie küssen wollte.
„Sie ist so schüchtern, sie sieht ja so selten Fremde“, erklärte die Mutter verlegen und sah den Vater an, der sie wiederum unzufrieden anschaute.
„Wie alt bist du?“ fragte die fremde Dame Elli.
„Ich weiß nicht.“
„So darfst du nicht antworten, Elli“, ermahnte sie der Vater. „Du mußt sagen: Danke für die Frage, liebe Tante, ich bin elf Jahre alt.“
Aber da Elli so etwas noch nie gesagt hatte, tat sie es auch jetzt nicht.
„Wie alt ist die Tochter der Herrschaften?“ beeilte sich die Mutter zu fragen.
„Sag jetzt, wie alt du bist, mein Schätzchen.“
„Elf Jahre, Mutter.“
„Dann sind sie gleich alt … Ihre Tochter ist doch auch elf …?“
Wieder beeilte sich die Mutter zu sagen, daß sie gleich alt seien.
„Elli, geh nicht an den Rand“, fing der Vater wieder an. „Du läßt deinen Gast ganz allein sitzen und zeigst ihr nicht deine Puppe und deine Spielsachen, obwohl sie so eine lange Reise gemacht hat, um dich zu sehen …“
„Ich habe keine Puppen und auch keine anderen Spielsachen.“
„Nicht? Du hattest doch mal welche?“
Die Mutter antwortete an Ellis Stelle: „Elli hatte nur welche, als sie sehr klein war … sie hat Puppen nie gemocht.“
„Tyyra mag sie sehr“, sagte die fremde Dame. „Sie kommt nicht zurecht, wenn sie keine dabei hat … Geh nur, Schätzchen, und hol die, die du im Wagen hast … wo ist sie dort?“ „Sie ist unter dem Sitz in ihrem eigenen Zimmer … sie schläft jetzt, sie ist müde von der Reise.“
Der Herr und die Dame lächelten zufrieden.
„Sie hat so eine lebhafte Phantasie, wenn man bedenkt, daß sie noch so jung ist … sie hat auf der ganzen Fahrt mit der Puppe gesprochen … Geh sie nun aufwecken, sie kann jetzt bestimmt schon aufstehen ...“
„Das ist unsere Tochter … Elli, warum stehst du da in der Tür?“
Elli ging den Gästen die Hand geben.
„Guten Tag, kleine Elli, wie geht es dir? Nun? Möchtest du keinen Kuß?“
Elli hatte den Kopf weggezogen, als die fremde Dame sie küssen wollte.
„Sie ist so schüchtern, sie sieht ja so selten Fremde“, erklärte die Mutter verlegen und sah den Vater an, der sie wiederum unzufrieden anschaute.
„Wie alt bist du?“ fragte die fremde Dame Elli.
„Ich weiß nicht.“
„So darfst du nicht antworten, Elli“, ermahnte sie der Vater. „Du mußt sagen: Danke für die Frage, liebe Tante, ich bin elf Jahre alt.“
Aber da Elli so etwas noch nie gesagt hatte, tat sie es auch jetzt nicht.
„Wie alt ist die Tochter der Herrschaften?“ beeilte sich die Mutter zu fragen.
„Sag jetzt, wie alt du bist, mein Schätzchen.“
„Elf Jahre, Mutter.“
„Dann sind sie gleich alt … Ihre Tochter ist doch auch elf …?“
Wieder beeilte sich die Mutter zu sagen, daß sie gleich alt seien.
„Elli, geh nicht an den Rand“, fing der Vater wieder an. „Du läßt deinen Gast ganz allein sitzen und zeigst ihr nicht deine Puppe und deine Spielsachen, obwohl sie so eine lange Reise gemacht hat, um dich zu sehen …“
„Ich habe keine Puppen und auch keine anderen Spielsachen.“
„Nicht? Du hattest doch mal welche?“
Die Mutter antwortete an Ellis Stelle: „Elli hatte nur welche, als sie sehr klein war … sie hat Puppen nie gemocht.“
„Tyyra mag sie sehr“, sagte die fremde Dame. „Sie kommt nicht zurecht, wenn sie keine dabei hat … Geh nur, Schätzchen, und hol die, die du im Wagen hast … wo ist sie dort?“ „Sie ist unter dem Sitz in ihrem eigenen Zimmer … sie schläft jetzt, sie ist müde von der Reise.“
Der Herr und die Dame lächelten zufrieden.
„Sie hat so eine lebhafte Phantasie, wenn man bedenkt, daß sie noch so jung ist … sie hat auf der ganzen Fahrt mit der Puppe gesprochen … Geh sie nun aufwecken, sie kann jetzt bestimmt schon aufstehen ...“
Montag, 23. Oktober 2023
3. Kapitel (D)
„Wer sind die Leute?“
„Der Herr ist ein alter Bekannter von Papa.“ Mehr konnte die Mutter nicht sagen.
Aber der Kutscher hatte die Frage gehört und erklärte, daß der Herr Propst in einer größeren Gemeinde sei als dieser und daß sie außerdem feine Leute seien. Sie waren bestimmt vornehm, denn sie hatten einen eigenen Kutscher.
Elli sah zu, wie die Pferde abgeschirrt wurden, sie sah seltsame Gespanne und einen Wagen, dessen Sitze so weich waren wie ein Sofa.
Sie ging um die Kutsche herum und machte dabei seltsame Schritte, wobei der Wagen ein wenig schaukelte. Elli versuchte, noch höher zu hüpfen, doch da hörte sie, wie jemand in der Tür der Veranda erschien, und sprang beinahe erschrocken zur Seite.
Der Vater eilte wieder nach draußen, hochrot im Gesicht und rief dem Kutscher zu, er solle die Sachen der Herrschaften ins Zimmer bringen. Dann entdeckte er Elli und befahl ihr, ins Haus zu kommen.
„Schnell, Elli, hinein mit dir … was stehst du hier herum … da ist ein kleines Mädchen, bei dem solltest du sein!“ Und der Vater wartete, bis Elli auf die Veranda kam. Die Gäste saßen schon da, der Herr im Schaukelstuhl, die Frau auf dem Sofa und das kleine Mädchen neben ihnen auf einem Stuhl.
„Der Herr ist ein alter Bekannter von Papa.“ Mehr konnte die Mutter nicht sagen.
Aber der Kutscher hatte die Frage gehört und erklärte, daß der Herr Propst in einer größeren Gemeinde sei als dieser und daß sie außerdem feine Leute seien. Sie waren bestimmt vornehm, denn sie hatten einen eigenen Kutscher.
Elli sah zu, wie die Pferde abgeschirrt wurden, sie sah seltsame Gespanne und einen Wagen, dessen Sitze so weich waren wie ein Sofa.
Sie ging um die Kutsche herum und machte dabei seltsame Schritte, wobei der Wagen ein wenig schaukelte. Elli versuchte, noch höher zu hüpfen, doch da hörte sie, wie jemand in der Tür der Veranda erschien, und sprang beinahe erschrocken zur Seite.
Der Vater eilte wieder nach draußen, hochrot im Gesicht und rief dem Kutscher zu, er solle die Sachen der Herrschaften ins Zimmer bringen. Dann entdeckte er Elli und befahl ihr, ins Haus zu kommen.
„Schnell, Elli, hinein mit dir … was stehst du hier herum … da ist ein kleines Mädchen, bei dem solltest du sein!“ Und der Vater wartete, bis Elli auf die Veranda kam. Die Gäste saßen schon da, der Herr im Schaukelstuhl, die Frau auf dem Sofa und das kleine Mädchen neben ihnen auf einem Stuhl.
Sonntag, 22. Oktober 2023
3. Kapitel (C)
Ein Herr und eine Frau saßen hinten im Wagen, und ihnen gegenüber saß ein kleines Mädchen. Es hatte einen Hut auf dem Kopf und auf dem Hut und in den Händen Blumen. Elli sah es von der Küchentreppe aus, dort stand sie und sah die Leute kommen, als sie durch die große Pforte auf den Hof fuhren und vor den Stufen der Haustür anhielten.
Der Vater eilte ihnen entgegen, Elli hatte ihn noch nie so lebhaft gesehen. Er öffnete schon die Kutschentür, half der fremden Frau beim Aussteigen und küßte ihr die Hand. Dann umarmte er den Herrn, und die beiden lachten und lärmten so, daß Elli sich mit dem Saum ihrer Schürze den Mund zuhalten mußte. Aber Elli wunderte sich noch mehr, weil ihr Vater sich zu dem kleinen Mädchen hinunterbeugte und sie fragte wie eine Erwachsene, wie es ihr ging und ob sie von der Reise müde war, und das Mädchen antwortete wie eine Erwachsene, daß sie kein bißchen müde war. Im gleichen Augenblick kam die Mutter heraus und sah etwas verlegen aus. Sie gab der fremden Frau die Hand und machte einen Knicks, aber die Besucherin neigte nur den Kopf. Doch dann riß der Vater die Tür der Veranda auf, ließ beide mit einer Verbeugung eintreten und forderte die Gäste auf, einzutreten. Sie gingen hinein, zuerst die Frau, dann das Mädchen und schließlich – gleichzeitig – der Herr und der Vater. Aber die Mutter ging als letzte hinein und kam gleich wieder zurück. Sie eilte beinahe im Laufschritt in die Küche.
3. Kapitel (B)
Der Vater fuhr das Mädchen sofort ruppig an, oft war es überhaupt nicht angemessen. Das Mädchen gehorchte dann, starr und ohne ein Wort zu sagen. Doch danach war es für die Mutter noch schwieriger mit ihr. In dem Verhalten des Mädchens war immer etwas, das aussah, als würde sie etwas verachten, und dann wieder, als hätte ihr jemand ein Unrecht getan. Dann, eines Abends, als die Mutter im Bett wachlag und nachdachte, kam ihr Gedanke, daß sie das Mädchen vielleicht in die Schule schicken sollten, und sie hatte sofort das Gefühl, daß sie das tun sollten. Sie erkannte an diesem Abend noch nicht den Grund, doch es kam ihr so vor, als wäre es am besten. Doch als sie am Morgen erwachte, wirkte die Sache so unmöglich, daß sie sich fragte, wie sie darauf hatte kommen können. Tagsüber dachte sie darüber nach und überlegte hin und her. Aber am nächsten Abend beschloß sie trotzdem, daß sie am nächsten Morgen mit dem Vater darüber reden würde …
Natürlich wäre es für Elli am besten, von zu Hause wegzukommen … um etwas zu lernen … und an vielen Orten war es ja schon üblich, daß auch Mädchen etwas lernten, so wie die Jungen. Und wenn sie es sich richtig überlegte – dann konnte ein Mädchen, das einen Kopf hatte, genauso viel leisten wie ein Junge – die hatten oft schlechtere Köpfe als Mädchen. Und die Mutter glaubte nicht, daß Elli dumm war, obwohl sie keine Freude an Hauswirtschaft hatte … es würde ihr auch nicht schaden, wenn sie es versuchte … Die Mutter wußte schon im voraus, was der Vater antworten würde, und sie wußte auch, daß sie seinen Gründen nicht widersprechen könnte …
Elli in die Schule? Warum soll sie nicht zu Hause sein? Sie sollte lesen und schreiben lernen, so gut es für Frauen nötig war, die Rechtschreibung mußte nicht perfekt sein … und das konnte ihr auch der Vater beibringen.
„Aber du siehst doch selbst, wie sie ist … sie hat zu nichts Lust … und ich denke nur, wenn sie lesen dürfte …“
„Davon würde es auch nicht besser werden … da bin ich ganz sicher … ich kenne die Frauen besser als ihr euch selbst …“ Und mit diesen Worten ging der Vater wieder hinaus, und die Sache blieb auf sich beruhen.
Aber eines Tages kam Besuch ins Pfarrhaus. Natürlich weckte es große Aufmerksamkeit, wenn Gäste ins Pfarrhaus kamen … und noch mehr, wenn sie in einer zweispännigen Kutsche vorfuhren.
Natürlich wäre es für Elli am besten, von zu Hause wegzukommen … um etwas zu lernen … und an vielen Orten war es ja schon üblich, daß auch Mädchen etwas lernten, so wie die Jungen. Und wenn sie es sich richtig überlegte – dann konnte ein Mädchen, das einen Kopf hatte, genauso viel leisten wie ein Junge – die hatten oft schlechtere Köpfe als Mädchen. Und die Mutter glaubte nicht, daß Elli dumm war, obwohl sie keine Freude an Hauswirtschaft hatte … es würde ihr auch nicht schaden, wenn sie es versuchte … Die Mutter wußte schon im voraus, was der Vater antworten würde, und sie wußte auch, daß sie seinen Gründen nicht widersprechen könnte …
Elli in die Schule? Warum soll sie nicht zu Hause sein? Sie sollte lesen und schreiben lernen, so gut es für Frauen nötig war, die Rechtschreibung mußte nicht perfekt sein … und das konnte ihr auch der Vater beibringen.
„Aber du siehst doch selbst, wie sie ist … sie hat zu nichts Lust … und ich denke nur, wenn sie lesen dürfte …“
„Davon würde es auch nicht besser werden … da bin ich ganz sicher … ich kenne die Frauen besser als ihr euch selbst …“ Und mit diesen Worten ging der Vater wieder hinaus, und die Sache blieb auf sich beruhen.
Aber eines Tages kam Besuch ins Pfarrhaus. Natürlich weckte es große Aufmerksamkeit, wenn Gäste ins Pfarrhaus kamen … und noch mehr, wenn sie in einer zweispännigen Kutsche vorfuhren.
Samstag, 21. Oktober 2023
3. Kapitel (A)
Die Mutter hatte gar kein gutes Gefühl dabei, daß sie ständig mit dem Vater über Elli sprach, aber sie konnte nicht anders und tat es doch. Jedesmal, wenn sie anfing und aufhörte zu reden, war sie der Meinung, daß es besser gewesen wäre, nichts zu sagen, aber sie tat es doch. Denn sie wußte nicht, wie sie mit dem Mädchen umgehen sollte. Sie konnte sie nicht dazu bewegen, irgend etwas anzufangen, und das machte ihr Sorgen. Diese Sorgen mußte sie wider Willen dem Vater erzählen. Aber das hatte die Sache nicht besser gemacht.
Dienstag, 17. Oktober 2023
2. Kapitel (G)
Etwas anderes hatte Eindruck auf sie gemacht – die Rute – aber die konnte die Mutter nicht benutzen. Und sie wollte auch nicht, nein, auch wenn sie sich keinen anderen Rat wußte … Nein, vor allem deshalb, weil das Mädchen den Schmerz der Rute spüren würde …
„Dir wird noch dieses eine Mal verziehen, Elli, aber wenn so etwas noch einmal vorkommt …“ Die Mutter mußte zu ihrer Schande gestehen, daß sie es mehr sagte, um das Gesicht zu wahren, als um das Mädchen zu erschrecken.
Der Vater kümmerte sich wenig um die Erziehung, verlangte jeden Tag den Brotkorb, aber dann vergaß er das Mädchen völlig. Doch das Mädchen wurde immer ernster und verschlossener. Sie war nie fröhlich, man sah sie nicht spielen, und sie konnte sich zu nichts aufraffen. Wenn ihr manchmal leichter ums Herz wurde oder Freude aufkommen wollte, erschrak sie beinahe darüber. Im Garten fühlte sie sich nicht mehr wohl, und jedesmal, wenn sie doch hineinging, sah es aus, als würde sie am liebsten nicht gesehen werden. Die Mutter merkte es und fing an, sie im Auge zu behalten.
Das Mädchen ging zuerst auf den Hinterhof, verschwand an den Rand des Feldes und schlich beinahe gebückt an den Strand. Dort pirschte sie hinter das Bootshaus … und einmal machte sich die Mutter auf und folgte ihr heimlich. Im Schutz des Bootshauses sah sie, daß das Mädchen ein Boot von den runden Rollen halb ins Wasser geschoben und sich auf die Hinterbank gesetzt hatte. Sie hatte einen Riemen in der Hand und war vollauf mit Rudern beschäftigt. Manchmal ließ sie das Wasser hoch in die Luft spritzen und sah zu, wie es auf den See hinunterrieselte. Dann lächelte sie vor sich hin, wartete ab, daß sich die Wasseroberfläche glättete, ließ erneut mit dem Ruder das Wasser spritzen und lächelte wieder. Und in ihren Augen lag der gleiche kindliche Blick, den sie früher gehabt hatte und den die Mutter in letzter Zeit immer mehr vermißte …
Die Mutter schlich davon, und auf dem Hof stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie hätte ihr Kind jetzt küssen und an sich drücken können, wie früher, als es noch sehr klein gewesen war. Aber vielleicht ist das wieder diese nutzlose Schwäche? … Und vielleicht ist sie ein komischer Mensch? Und ist es richtig, daß sie dieses Kind so sehr – zu sehr – liebt? ...
„Dir wird noch dieses eine Mal verziehen, Elli, aber wenn so etwas noch einmal vorkommt …“ Die Mutter mußte zu ihrer Schande gestehen, daß sie es mehr sagte, um das Gesicht zu wahren, als um das Mädchen zu erschrecken.
Der Vater kümmerte sich wenig um die Erziehung, verlangte jeden Tag den Brotkorb, aber dann vergaß er das Mädchen völlig. Doch das Mädchen wurde immer ernster und verschlossener. Sie war nie fröhlich, man sah sie nicht spielen, und sie konnte sich zu nichts aufraffen. Wenn ihr manchmal leichter ums Herz wurde oder Freude aufkommen wollte, erschrak sie beinahe darüber. Im Garten fühlte sie sich nicht mehr wohl, und jedesmal, wenn sie doch hineinging, sah es aus, als würde sie am liebsten nicht gesehen werden. Die Mutter merkte es und fing an, sie im Auge zu behalten.
Das Mädchen ging zuerst auf den Hinterhof, verschwand an den Rand des Feldes und schlich beinahe gebückt an den Strand. Dort pirschte sie hinter das Bootshaus … und einmal machte sich die Mutter auf und folgte ihr heimlich. Im Schutz des Bootshauses sah sie, daß das Mädchen ein Boot von den runden Rollen halb ins Wasser geschoben und sich auf die Hinterbank gesetzt hatte. Sie hatte einen Riemen in der Hand und war vollauf mit Rudern beschäftigt. Manchmal ließ sie das Wasser hoch in die Luft spritzen und sah zu, wie es auf den See hinunterrieselte. Dann lächelte sie vor sich hin, wartete ab, daß sich die Wasseroberfläche glättete, ließ erneut mit dem Ruder das Wasser spritzen und lächelte wieder. Und in ihren Augen lag der gleiche kindliche Blick, den sie früher gehabt hatte und den die Mutter in letzter Zeit immer mehr vermißte …
Die Mutter schlich davon, und auf dem Hof stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie hätte ihr Kind jetzt küssen und an sich drücken können, wie früher, als es noch sehr klein gewesen war. Aber vielleicht ist das wieder diese nutzlose Schwäche? … Und vielleicht ist sie ein komischer Mensch? Und ist es richtig, daß sie dieses Kind so sehr – zu sehr – liebt? ...
Montag, 16. Oktober 2023
2. Kapitel (F)
So dachte die Mutter. Sie blieb auf ihrem Platz sitzen, nachdem der Vater hinausgegangen war. Doch als sie aufstand, um zu Elli zu gehen, hatte sie das Gefühl, daß sie ganz und gar nicht so handeln konnte, wie sie eigentlich sollte. Und eigentlich sollte sie es so machen wie der Vater, die Träume und die Heftigkeit mit der Wurzel ausreißen, und wenn das Mädchen solche Anwandlungen zeigte, streng sein und ihm die Flausen austreiben.
Aber der Vater hatte gut reden, er wußte nicht, wie weh so etwas tat. Aber sie wußte es und spürte es auch jetzt nach vielen Jahren noch. Nein, sie konnte nicht … jedenfalls noch nicht … doch sie mußte endlich einmal streng sein ...
„Du hast dich sehr schlecht benommen, Elli … Wie kannst du dich so aufführen? Geh nun und bitte Vater um Verzeihung.“
Elli stand mit dem Rücken zum Zimmer und schaute aus dem Fenster. Sie drehte sich nicht um, als ihre Mutter sprach.
„Es gehört sich nicht für dich, Elli, so zu sein und deinen Groll zu pflegen … Du hättest Vater den Brotkorb geben sollen, als er dich darum gebeten hat … Und es ist eine große Sünde, seinen Eltern ungehorsam zu sein … Weißt du nicht mehr, was im vierten Gebot gesagt wird?“
Der Mutter kam es vor, als würde sie ihre eigene Mutter reden hören, als wäre sie an Ellis Stelle gewesen. Der Unterschied war nur, daß die Stimme ihrer Mutter ganz anders gewesen war. Doch sie hörte nur zu gut, wie schwach ihre eigene Stimme klang, und begriff, daß es kein Wunder war, daß sie keine Wirkung hatte. Sie war auch nicht sicher, ob sie wirklich meinte, daß Elli sich entschuldigen sollte.
„Und warum hast du Vater nicht den Brotkorb gegeben und den Stuhl umgestoßen?“
„Warum – verspottet Vater – mich immer?“ sagte Elli in schroffem Ton.
„Vater verspottet dich doch nicht … und auch wenn er es täte, dürftest du dich nicht so benehmen … und vielleicht war es nur Spaß … ein Kind darf nicht ungehorsam sein … Gott bestraft es, und es ist eine große Sünde …“
Die Mutter merkte, daß sie dasselbe sagte, was sie schon früher gesagt hatte. Und was half das Gerede … das Mädchen hatte ja allen Grund zu seinem Verhalten gehabt, und die Mutter erinnerte sich wieder, wie wenig die Predigten damals bei ihr bewirkt hatten.
Aber der Vater hatte gut reden, er wußte nicht, wie weh so etwas tat. Aber sie wußte es und spürte es auch jetzt nach vielen Jahren noch. Nein, sie konnte nicht … jedenfalls noch nicht … doch sie mußte endlich einmal streng sein ...
„Du hast dich sehr schlecht benommen, Elli … Wie kannst du dich so aufführen? Geh nun und bitte Vater um Verzeihung.“
Elli stand mit dem Rücken zum Zimmer und schaute aus dem Fenster. Sie drehte sich nicht um, als ihre Mutter sprach.
„Es gehört sich nicht für dich, Elli, so zu sein und deinen Groll zu pflegen … Du hättest Vater den Brotkorb geben sollen, als er dich darum gebeten hat … Und es ist eine große Sünde, seinen Eltern ungehorsam zu sein … Weißt du nicht mehr, was im vierten Gebot gesagt wird?“
Der Mutter kam es vor, als würde sie ihre eigene Mutter reden hören, als wäre sie an Ellis Stelle gewesen. Der Unterschied war nur, daß die Stimme ihrer Mutter ganz anders gewesen war. Doch sie hörte nur zu gut, wie schwach ihre eigene Stimme klang, und begriff, daß es kein Wunder war, daß sie keine Wirkung hatte. Sie war auch nicht sicher, ob sie wirklich meinte, daß Elli sich entschuldigen sollte.
„Und warum hast du Vater nicht den Brotkorb gegeben und den Stuhl umgestoßen?“
„Warum – verspottet Vater – mich immer?“ sagte Elli in schroffem Ton.
„Vater verspottet dich doch nicht … und auch wenn er es täte, dürftest du dich nicht so benehmen … und vielleicht war es nur Spaß … ein Kind darf nicht ungehorsam sein … Gott bestraft es, und es ist eine große Sünde …“
Die Mutter merkte, daß sie dasselbe sagte, was sie schon früher gesagt hatte. Und was half das Gerede … das Mädchen hatte ja allen Grund zu seinem Verhalten gehabt, und die Mutter erinnerte sich wieder, wie wenig die Predigten damals bei ihr bewirkt hatten.
Sonntag, 15. Oktober 2023
2. Kapitel (E)
Wenn sie nur gewußt hätte, wie es richtiger gewesen wäre, und verstanden hätte! Aber woher sollte sie das wissen? Sie war ja auf die gleiche Art erzogen worden, wie sie Elli erziehen wollte. Doch eben daran zweifelte sie jetzt … vielleicht wäre für sie auch etwas anderes besser gewesen. Und wenn das so war, mußte sie ihre Tochter leben und so sein lassen, wie sie wollte, fröhlich sein, rennen, klettern und träumen, wenn ihr danach war. Aber vielleicht wäre es trotzdem besser, so etwas im Keim zu ersticken, so wie es bei ihr selbst getan worden war … damit es nicht für den Rest ihres Lebens Wurzeln in ihrem Geist schlagen würde. Sie selbst hatte nie der Natur ihren Lauf lassen dürfen, in keiner Hinsicht. Sie hatte kaum rennen dürfen, geschweige denn auf Bäume klettern und so zu tun, als könnte sie fliegen. Das war unpassend und eine Sünde. Auch wenn sie selbst nie davon überzeugt gewesen war. Doch sie hatte damals gehorchen müssen und später auch. Nie hatte sie getan, was sie selbst gewollt hatte, immer das, was andere wollten. Und sie hatte sich daran gewöhnt und bis jetzt so gelebt. Wäre ihr Leben besser geworden, wenn sie nach ihren eigenen Wünschen gehandelt hätte, so wie manche andere auf dieser Welt? Doch das war ein falscher Gedanke und sündig noch dazu. Sie durfte nicht in Frage stellen, was erlaubt war, und nicht andere beneiden. Jedem war sein eigenes Schicksal bestimmt, und jeder mußte sein Kreuz geduldig tragen. Das hatte sie ein Leben lang lernen müssen, doch sie hatte es nicht wirklich gelernt. Niemals war alles in ihr erstickt worden, auch wenn sie es manchmal dachte. Vielleicht war man doch nicht so streng zu ihr gewesen … Vielleicht lag der Grund darin und nicht irgendwo anders ...
Samstag, 14. Oktober 2023
2. Kapitel (D)
„Sie erträgt es nicht, daß du sie immer tadelst … du mußt damit aufhören …“
„Sie muß es ertragen! So eine Frechheit! Oder ist dieses Benehmen in deinem Sinn, noch dazu im Beisein von Gästen?“
„Das sage ich doch gar nicht …“
„So! Und eine Mutter muß dafür sorgen, daß das Kind nicht frech zu seinem Vater ist! So eine Göre … Und es ist seltsam, daß du als Mutter nicht besser mit dem Kind fertigwirst … Ich muß mich um sie kümmern … ihre Erziehung ist vernachlässigt …“
„Aber nicht auf so eine Art …“
„Auf was für eine Art denn?“
Und ohne eine weitere Antwort abzuwarten, ging der Vater mitten im Gespräch hinaus. Und die Mutter richtete sich nach den Anweisungen des Vaters, obwohl sie jedesmal das Gefühl hatte, sie müßte sich anders verhalten.
„Sie muß es ertragen! So eine Frechheit! Oder ist dieses Benehmen in deinem Sinn, noch dazu im Beisein von Gästen?“
„Das sage ich doch gar nicht …“
„So! Und eine Mutter muß dafür sorgen, daß das Kind nicht frech zu seinem Vater ist! So eine Göre … Und es ist seltsam, daß du als Mutter nicht besser mit dem Kind fertigwirst … Ich muß mich um sie kümmern … ihre Erziehung ist vernachlässigt …“
„Aber nicht auf so eine Art …“
„Auf was für eine Art denn?“
Und ohne eine weitere Antwort abzuwarten, ging der Vater mitten im Gespräch hinaus. Und die Mutter richtete sich nach den Anweisungen des Vaters, obwohl sie jedesmal das Gefühl hatte, sie müßte sich anders verhalten.
Mittwoch, 11. Oktober 2023
2. Kapitel (C)
„Hast du heute schon viele Kleider zerrissen, Elli?“ fragte der Vater manchmal.
„Kein einziges.“
„Und hast du nicht im Baum gesessen und ,Kuckuckʻ gerufen?“
„Nein.“
„Unsere Elli ist mit den Vögeln verwandt … wenn sie nur Flügel hätte … aber vielleicht wachsen die ja noch!“
Die Gäste lachten mit dem Vater, aber die Mutter sah, daß dem Mädchen die Gesichtszüge einfroren.
„Es ist doch ein Vogel … ein Kuckuck … er sitzt in der Baumkrone und ruft ,Kuckuckʻ, so daß man in der Gemeinde fragt, ob das ein echter Kuckuck ist. Ruf mal ,Kuckuckʻ, damit unsere Gäste es auch hören. Und gib den Brotkorb her, Elli!“
Aber Elli rührte sich nicht.
„Elli, gib Vater den Brotkorb“, sagte die Mutter.
Doch Elli starrte nur reglos auf ihren leeren Teller.
„Elli? Was hat das zu bedeuten?“
„Raus mit dir, Elli!“ befahl die Mutter und gab dem Vater den Brotkorb.
Elli stand auf, aber dabei kippte sie ihren Stuhl um, so daß er unsanft auf dem Rücken landete, und die Mutter war nicht sicher, ob es aus Versehen passiert war oder ob sie ihn mit Absicht umgestoßen hatte. Doch der Vater war so wütend, daß er sich kaum verkneifen konnte, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, als wäre alles dessen Schuld. Die Gäste waren verlegen und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten.
Nachdem der Besuch gegangen war, ging die Mutter in das Zimmer des Vaters. Er marschierte dort auf und ab und zog grimmig an seiner Pfeife.
„Kein einziges.“
„Und hast du nicht im Baum gesessen und ,Kuckuckʻ gerufen?“
„Nein.“
„Unsere Elli ist mit den Vögeln verwandt … wenn sie nur Flügel hätte … aber vielleicht wachsen die ja noch!“
Die Gäste lachten mit dem Vater, aber die Mutter sah, daß dem Mädchen die Gesichtszüge einfroren.
„Es ist doch ein Vogel … ein Kuckuck … er sitzt in der Baumkrone und ruft ,Kuckuckʻ, so daß man in der Gemeinde fragt, ob das ein echter Kuckuck ist. Ruf mal ,Kuckuckʻ, damit unsere Gäste es auch hören. Und gib den Brotkorb her, Elli!“
Aber Elli rührte sich nicht.
„Elli, gib Vater den Brotkorb“, sagte die Mutter.
Doch Elli starrte nur reglos auf ihren leeren Teller.
„Elli? Was hat das zu bedeuten?“
„Raus mit dir, Elli!“ befahl die Mutter und gab dem Vater den Brotkorb.
Elli stand auf, aber dabei kippte sie ihren Stuhl um, so daß er unsanft auf dem Rücken landete, und die Mutter war nicht sicher, ob es aus Versehen passiert war oder ob sie ihn mit Absicht umgestoßen hatte. Doch der Vater war so wütend, daß er sich kaum verkneifen konnte, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, als wäre alles dessen Schuld. Die Gäste waren verlegen und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten.
Nachdem der Besuch gegangen war, ging die Mutter in das Zimmer des Vaters. Er marschierte dort auf und ab und zog grimmig an seiner Pfeife.
Dienstag, 10. Oktober 2023
2. Kapitel (B)
Der Vater bemerkte nicht, daß das fröhliche Mädchen verschlossen geworden war. Ab und zu fiel ihm auf, daß das Mädchen nicht zu Tisch kam, und wenn er schlechte Laune hatte, schimpfte er mit ihr, aber wenn er gute Laune hatte, machte er Witze darüber, die Elli als Tadel empfand. Ihr Vater stichelte besonders gern an ihr herum, wenn gerade Besuch da war.
Montag, 9. Oktober 2023
2. Kapitel (A)
Die Mutter hätte oft gern gewußt, was in dem Geist des Mädchens zu dieser Zeit vor sich ging. Sie schien von Tag zu Tag zu wachsen und älter zu werden und immer ernster zu werden. Sie mied ihren Vater und die Mutter beinahe gleichermaßen. Das war kein Wunder, weil der Vater, wenn er einmal angefangen hatte zu tadeln, kein Ende fand und ewig auf der gleichen Sache herumritt, aber die Mutter versuchte, freundlicher und liebevoller zu sein. Vor allem wollte sie nicht mehr mit den anderen zum Essen kommen. Und oft war sie diesbezüglich sehr dickköpfig. Manchmal mußte die Mutter streng sein, bevor sie gehorchte. Und manchmal verschwand sie für die Zeit des Mittagessens vollkommen, so daß weder Rufen noch Suchen weiterhalfen. Erst nachdem viele Männer gesucht hatten, fand man das Mädchen an einer seltsamen Stelle im Wald oder am Rand eines Feldes, wo sie eingeschlafen war. Dann mußte die Mutter schimpfen, aber das machte sie noch eigensinniger.
Sonntag, 8. Oktober 2023
1. Kapitel (L)
Der Vater tadelte sie wegen des zerrissenen Kleides, aber die Mutter war beinahe zufrieden, als sie sah, daß es Elli nichts ausmachte. Doch dann fing der Vater an, ihr auf seine typische Art Vorwürfe zu machen, weil sie auf den Baum geklettert war und „Kuckuck“ gerufen hatte.
„So ein großes Mädchen will noch so kindisch sein! Alle Fremden schauen in die Birke und lachen dich aus …“
Die Mutter sah, daß Elli errötete, und sie begriff, daß der Vater einen wunden Punkt getroffen hatte. Elli sagte den ganzen Tag nichts mehr. Und in der Nacht lag sie still da, obwohl die Mutter befürchtet hatte, daß sie wieder lebhaft träumen würde. Aber am Morgen war sie niedergeschlagen und vermied es, jemandem in die Augen zu sehen. Und es dauerte lange, bis die Mutter ihr in die Augen sehen konnte. Und als sie es dann tat, erschien es ihr, daß der Blick des Mädchens fast der einer Erwachsenen war. Sie bat nie wieder darum, auf den Baum oder das Dach klettern zu dürfen.
„So ein großes Mädchen will noch so kindisch sein! Alle Fremden schauen in die Birke und lachen dich aus …“
Die Mutter sah, daß Elli errötete, und sie begriff, daß der Vater einen wunden Punkt getroffen hatte. Elli sagte den ganzen Tag nichts mehr. Und in der Nacht lag sie still da, obwohl die Mutter befürchtet hatte, daß sie wieder lebhaft träumen würde. Aber am Morgen war sie niedergeschlagen und vermied es, jemandem in die Augen zu sehen. Und es dauerte lange, bis die Mutter ihr in die Augen sehen konnte. Und als sie es dann tat, erschien es ihr, daß der Blick des Mädchens fast der einer Erwachsenen war. Sie bat nie wieder darum, auf den Baum oder das Dach klettern zu dürfen.
Samstag, 7. Oktober 2023
1. Kapitel (K)
„Warum weinst du, Kind?“
„Laß mich auf den Baum … laß mich … ich falle schon nicht … oh, warum erlaubst du es nicht?“ Das Mädchen sprach immer noch im Halbschlaf vor sich hin, kam aber zu sich, als sie aufwachte. Und die Mutter mußte in dieser Nacht noch mehrmals das gleiche tun.
Aber am Morgen brachte sie es nicht übers Herz, es zu verbieten, und erlaubte dem Mädchen ungebeten, auf den Baum zu klettern. Und das Mädchen eilte nach draußen, kletterte auf die Birke, rief dort „Kuckuck“ und stellte sich vor, es wäre ein Vogel, der sofort in andere Länder fliegen könnte … weit ins Sommerland, wo die Wolken mit dem Nordwind dahinzogen und wo es noch höhere Bäume gab als hier und wo alle Menschen auf den Bäumen wohnten.
Aber in solchen Nächten lag die Mutter lange wach und wußte sich keinen Rat, was man mit dem Mädchen eigentlich machen sollte. Sicher verstand sie diesen Wunsch und zugleich auch wieder nicht … Diese Kletterei – und was, wenn sie fällt? Aber wenn jemand als Kind schon so anfängt, dann ist etwas in seiner Natur, das ihm, wenn es älter ist, nicht zustatten kommen wird … und Gott bewahre!
So dachte die Mutter, aber sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken und tröstete sich damit, daß sie sich vielleicht irrte und sich vielleicht ganz unnötig Sorgen machte. Wenn sie es nur selbst nicht so gut gewußt hätte.
Doch dann dachte Mutter, daß es vielleicht am besten wäre, mit dem Vater zu reden. Obwohl sie stark bezweifelte, daß das helfen würde. Der Vater verstand solche Dinge für gewöhnlich nicht.
Und der Vater faßte es völlig falsch auf.
„Ja, ich habe es schon gemerkt und mich gewundert, warum du es nicht verbietest … ja, es paßt nicht, und natürlich zerreißt sie ihr Kleid und ihre anderen Sachen … du mußt es ihr ein für allemal verbieten …“
„Vielleicht ist es besser, wenn du …“
„Wo ist sie? Ich sage es ihr sofort.“
Die Mutter rief Elli herein. Ihr kam es falsch vor, aber vielleicht war es doch am besten, wenn der Vater es einmal sagte …
„Laß mich auf den Baum … laß mich … ich falle schon nicht … oh, warum erlaubst du es nicht?“ Das Mädchen sprach immer noch im Halbschlaf vor sich hin, kam aber zu sich, als sie aufwachte. Und die Mutter mußte in dieser Nacht noch mehrmals das gleiche tun.
Aber am Morgen brachte sie es nicht übers Herz, es zu verbieten, und erlaubte dem Mädchen ungebeten, auf den Baum zu klettern. Und das Mädchen eilte nach draußen, kletterte auf die Birke, rief dort „Kuckuck“ und stellte sich vor, es wäre ein Vogel, der sofort in andere Länder fliegen könnte … weit ins Sommerland, wo die Wolken mit dem Nordwind dahinzogen und wo es noch höhere Bäume gab als hier und wo alle Menschen auf den Bäumen wohnten.
Aber in solchen Nächten lag die Mutter lange wach und wußte sich keinen Rat, was man mit dem Mädchen eigentlich machen sollte. Sicher verstand sie diesen Wunsch und zugleich auch wieder nicht … Diese Kletterei – und was, wenn sie fällt? Aber wenn jemand als Kind schon so anfängt, dann ist etwas in seiner Natur, das ihm, wenn es älter ist, nicht zustatten kommen wird … und Gott bewahre!
So dachte die Mutter, aber sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken und tröstete sich damit, daß sie sich vielleicht irrte und sich vielleicht ganz unnötig Sorgen machte. Wenn sie es nur selbst nicht so gut gewußt hätte.
Doch dann dachte Mutter, daß es vielleicht am besten wäre, mit dem Vater zu reden. Obwohl sie stark bezweifelte, daß das helfen würde. Der Vater verstand solche Dinge für gewöhnlich nicht.
Und der Vater faßte es völlig falsch auf.
„Ja, ich habe es schon gemerkt und mich gewundert, warum du es nicht verbietest … ja, es paßt nicht, und natürlich zerreißt sie ihr Kleid und ihre anderen Sachen … du mußt es ihr ein für allemal verbieten …“
„Vielleicht ist es besser, wenn du …“
„Wo ist sie? Ich sage es ihr sofort.“
Die Mutter rief Elli herein. Ihr kam es falsch vor, aber vielleicht war es doch am besten, wenn der Vater es einmal sagte …
Freitag, 6. Oktober 2023
1. Kapitel (J)
Die Mutter ahnte, daß es Elli war.
Und es war auch Elli. Sie hörte weder den ersten Ruf der Mutter noch den zweiten und reagierte erst, als die Mutter direkt unter dem Baum stand, nach oben brüllte und ihr befahl, sofort herunterzukommen. Beim Abstieg zerriß Elli sich ihr Kleid, und das machte die Mutter noch zorniger. Aber sie war nicht so wütend, wie Elli anfangs gedacht hatte.
Doch sie verkündete trotzdem, daß es diesmal Haue geben würde, denn nun mußte man sie bestrafen … sie hatte sie doch schon beim letztenmal davor gewarnt … warum gehorchte Elli nicht? Und was hatte es zu bedeuten, daß Elli nicht am Boden blieb?
Zunächst sagte Elli nichts, doch als ihre Mutter noch einmal fragte, ob es der gleiche Grund sei, aus dem sie auf das Dach der Vorratskammer geklettert sei … um die Welt zu sehen … oder was war es noch gleich? … da sagte sie, daß das der Grund war. Und als Elli das gesagt hatte, erzählte sie noch mehr. Dort oben war es so schön … und sie würde schon nicht fallen und auch nicht ihr Kleid zerreißen … wenn sie nur ab und zu hinauf dürfte … sie konnte doch klettern … nur ab und zu … nur auf den niedrigsten Ast …
Die Mutter verbot es ihr, doch sie verabreichte ihr keine Prügel.
Sie hätte es tun sollen, aber sie brachte es diesmal nicht fertig. Die Mutter war der Meinung, daß sie so etwas schon vor langer Zeit hätte verhindern sollen … Wie seltsam die Augen des Mädchens geglüht hatten, als sie darum gebeten hatte. Erst auf die Leiter, dann auf das Dach und jetzt auf den Baum! Die Mutter erinnerte sich an etwas aus ihrer eigenen Kinderzeit, und sie fing an, sich ernsthaft Sorgen um das Mädchen zu machen. Und sie wußte nicht, ob sie es ihr verbieten sollte oder …
Sie verbot es ihr, doch als sie das getan hatte, sprach das Mädchen tagelang kein Wort und aß auch nichts. Nachts redete sie im Schlaf, und die Mutter hörte, daß sie auf dem Baum oder auf dem Dach war, und sie schlug die Hände zusammen und lachten … Oder sie brach plötzlich in Tränen aus, und man hörte sie bitten, daß sie es durfte … durfte! Und sie weinte so lange, daß die Mutter aufstehen und sie wecken mußte ...
Und es war auch Elli. Sie hörte weder den ersten Ruf der Mutter noch den zweiten und reagierte erst, als die Mutter direkt unter dem Baum stand, nach oben brüllte und ihr befahl, sofort herunterzukommen. Beim Abstieg zerriß Elli sich ihr Kleid, und das machte die Mutter noch zorniger. Aber sie war nicht so wütend, wie Elli anfangs gedacht hatte.
Doch sie verkündete trotzdem, daß es diesmal Haue geben würde, denn nun mußte man sie bestrafen … sie hatte sie doch schon beim letztenmal davor gewarnt … warum gehorchte Elli nicht? Und was hatte es zu bedeuten, daß Elli nicht am Boden blieb?
Zunächst sagte Elli nichts, doch als ihre Mutter noch einmal fragte, ob es der gleiche Grund sei, aus dem sie auf das Dach der Vorratskammer geklettert sei … um die Welt zu sehen … oder was war es noch gleich? … da sagte sie, daß das der Grund war. Und als Elli das gesagt hatte, erzählte sie noch mehr. Dort oben war es so schön … und sie würde schon nicht fallen und auch nicht ihr Kleid zerreißen … wenn sie nur ab und zu hinauf dürfte … sie konnte doch klettern … nur ab und zu … nur auf den niedrigsten Ast …
Die Mutter verbot es ihr, doch sie verabreichte ihr keine Prügel.
Sie hätte es tun sollen, aber sie brachte es diesmal nicht fertig. Die Mutter war der Meinung, daß sie so etwas schon vor langer Zeit hätte verhindern sollen … Wie seltsam die Augen des Mädchens geglüht hatten, als sie darum gebeten hatte. Erst auf die Leiter, dann auf das Dach und jetzt auf den Baum! Die Mutter erinnerte sich an etwas aus ihrer eigenen Kinderzeit, und sie fing an, sich ernsthaft Sorgen um das Mädchen zu machen. Und sie wußte nicht, ob sie es ihr verbieten sollte oder …
Sie verbot es ihr, doch als sie das getan hatte, sprach das Mädchen tagelang kein Wort und aß auch nichts. Nachts redete sie im Schlaf, und die Mutter hörte, daß sie auf dem Baum oder auf dem Dach war, und sie schlug die Hände zusammen und lachten … Oder sie brach plötzlich in Tränen aus, und man hörte sie bitten, daß sie es durfte … durfte! Und sie weinte so lange, daß die Mutter aufstehen und sie wecken mußte ...
Donnerstag, 5. Oktober 2023
1. Kapitel (I)
Aber der Junge ging nicht … er sah mit offenem Mund in den Baum hinauf, während das Mädchen von einem Ast zum nächsten kletterte, immer höher in die Baumkrone und erst innehielt, als der Stamm ins Wanken geriet. Doch dort teilte er sich in zwei Äste, und Elli setzte sich unter einem Dach aus Blättern in die Astgabel. Fast hätte sie in ihrem Herzen gekichert. Jetzt endlich! … Und in einem so guten Versteck! … Und trotzdem sah sie durch die Blätter jeden Zweig … aber niemand würde sie sehen, wenn sie nicht wieder abstieg … Da unten waren die Felder … und auch die Landstraße war deutlich zu sehen … Viel höher als das Dach des Hauses … oh, oh! … Sie schaukelte ein wenig, und das Laub rauschte so schön in den Ohren! … Es war so herrlich, daß sie noch gar nicht richtig daran denken konnte. Und hin und wieder liefen ihr wohlige Schauer über den Rücken, und ihre Wangen kribbelten …
Aber derweil stand der Junge unten und schaute immer noch nach oben. „Laß das, Mädchen, komm schon runter … was machst du da?“
Aber das Mädchen hörte nichts.
„Ich nehme das Gestell weg, dann kannst du nicht mehr runter!“
Aber Elli hörte auch das nicht. Sie konnte so sitzen, daß sie sich nicht einmal festhalten mußte. Aber sie hielt sich trotzdem fest und lehnte sich zurück, so weit die Arme reichten und so weit, daß sie zwischen den Blättern den blauen Himmel über sich sah … und dann nach vorn, aber da hielt sie sich mit beiden Armen fest.
Dann kam die Mutter über den Hof und sah den fremden Jungen im Garten.
„Junge, was machst du hier im Garten? Was siehst du dir an?“
„Da ist ein Mädchen in der Birke …“
„Was für ein Mädchen?“
„Ich glaube, das Mädchen aus diesem Haus … sie ist nach oben geklettert ...“
Aber derweil stand der Junge unten und schaute immer noch nach oben. „Laß das, Mädchen, komm schon runter … was machst du da?“
Aber das Mädchen hörte nichts.
„Ich nehme das Gestell weg, dann kannst du nicht mehr runter!“
Aber Elli hörte auch das nicht. Sie konnte so sitzen, daß sie sich nicht einmal festhalten mußte. Aber sie hielt sich trotzdem fest und lehnte sich zurück, so weit die Arme reichten und so weit, daß sie zwischen den Blättern den blauen Himmel über sich sah … und dann nach vorn, aber da hielt sie sich mit beiden Armen fest.
Dann kam die Mutter über den Hof und sah den fremden Jungen im Garten.
„Junge, was machst du hier im Garten? Was siehst du dir an?“
„Da ist ein Mädchen in der Birke …“
„Was für ein Mädchen?“
„Ich glaube, das Mädchen aus diesem Haus … sie ist nach oben geklettert ...“
Mittwoch, 4. Oktober 2023
1. Kapitel (H)
„Was soll ich da? Das ist ja nicht mal eine Eberesche … wenn er wenigsten Beeren trüge …“
„Trotzdem … versuch es mal … du kannst es bestimmt nicht!“
„Ich komme auf jeden Baum, wenn ich will!“
„Springst du von diesem Holzgestell?“
„Ich hüpfe nicht … aber wenn du mir einen Stab oder einen Pfahl bringst, zeige ich es dir.“
Elli holte die Stange, die in der Küche an der Wand hing. „Da ist eine Stange! Na?“
„Mal sehen!“ Und der Junge lehnte die Stange an den tiefsten Ast des Baumes und kletterte hinauf.
„Ich will auch!“ rief Elli von unten und hüpfte vor Ungeduld. „Komm runter, damit ich rauf kann!“
Und als der Junge herunterkam und Elli mit roten Wangen auf dem niedrigsten Ast stand, rief sie von dort aus dem Jungen zu, der auf dem Boden stand: „Geh jetzt, Junge! Sofort, damit keiner sieht, daß ich hier bin!“
„Trotzdem … versuch es mal … du kannst es bestimmt nicht!“
„Ich komme auf jeden Baum, wenn ich will!“
„Springst du von diesem Holzgestell?“
„Ich hüpfe nicht … aber wenn du mir einen Stab oder einen Pfahl bringst, zeige ich es dir.“
Elli holte die Stange, die in der Küche an der Wand hing. „Da ist eine Stange! Na?“
„Mal sehen!“ Und der Junge lehnte die Stange an den tiefsten Ast des Baumes und kletterte hinauf.
„Ich will auch!“ rief Elli von unten und hüpfte vor Ungeduld. „Komm runter, damit ich rauf kann!“
Und als der Junge herunterkam und Elli mit roten Wangen auf dem niedrigsten Ast stand, rief sie von dort aus dem Jungen zu, der auf dem Boden stand: „Geh jetzt, Junge! Sofort, damit keiner sieht, daß ich hier bin!“
1. Kapitel (G)
Jeden Tag und viele Male am Tag kam ihr plötzlich die Birke in den Sinn, und sie mußte sofort zu ihr in den Garten eilen. Wenn sie nur hinauf könnte! Aber das ging nicht! Wenn sie nur auf den tiefsten Ast … aber auch der war schrecklich weit oben …
Dabei wäre es wohl geblieben, wenn nicht an einem Samstag der Sohn des Kirchenvorstehers neben dem Gartenzaun gestanden und zugesehen hätte, wie Elli versuchte, mit Hilfe eines Bretterstapels auf den tiefsten Ast zu kommen. Aber der Ast befand sich eben über ihr, sie kam nicht an ihn heran …
„Was machst du da?“ fragte der Junge.
„Nichts.“
„Kommst du nicht auf den Baum?“
„Könntest du es denn?“
„Auf den Baum da?“ Und im Nu war der Junge über den Zaun geklettert und bei der Birke.
Dabei wäre es wohl geblieben, wenn nicht an einem Samstag der Sohn des Kirchenvorstehers neben dem Gartenzaun gestanden und zugesehen hätte, wie Elli versuchte, mit Hilfe eines Bretterstapels auf den tiefsten Ast zu kommen. Aber der Ast befand sich eben über ihr, sie kam nicht an ihn heran …
„Was machst du da?“ fragte der Junge.
„Nichts.“
„Kommst du nicht auf den Baum?“
„Könntest du es denn?“
„Auf den Baum da?“ Und im Nu war der Junge über den Zaun geklettert und bei der Birke.
1. Kapitel (F)
Die Bäume rauschten über ihr, die Zweige der Birke wiegten sich im Wind, aber in der Espe bewegten sich nur die Blätter und zitterten. Den Anblick fand Elli so schön, daß sie ihren Kummer und die Angst vergaß. Sie sah weiter zu, wie die Zweige der Birke sich wiegten und das Laub der Espe zitterte und alle Bäume leise rauschten … Was war in diesen Bäumen, das so rauschte, und warum zitterte das Laub? … Sie bekam keine Antwort darauf, aber sie brauchte auch gar keine … Ihre Gedanken schweiften schon wieder in andere Gefilde … Wieviele Blätter hatten die Bäume … eins, zwei, drei, fünf … zehn … hundert … tausend … Dann kümmerte es sie nicht mehr, es schien eine Menge zu sein …! Oh, wenn sie nur ein Vogel wäre … oder wenn sie wenigstens einen Flügel hätte, dann würde sie über die Bäume hinwegfliegen … und wenn sie ein Kuckuck wäre, würde sie „Kuckuck!“ rufen, den ganzen Tag und die ganze Nacht! … Die Birke war so hoch, viel höher als das Haus … sie würde in der Baumkrone „Kuckuck“ rufen, wenn sie einen Flügel hätte, mit dem sie fliegen könnte … Wenn sie ganz allein wäre, wenn niemand sonst im Haus wäre, würde sie bis in die Baumkronen emporklettern und dann weiter von Ast zu Ast … hinein in die Baumkrone … und dann würde sie zwischen den Ästen hin- und herspringen, und sie würde schauen … sie würde ganz still sein … und sie würden nichts ahnen, wenn sie nach Hause kamen. Aber sie würde nicht mehr rufen … nein, so sehr sie auch suchten! Und sie würde auch nachts im Baum sitzen …
Und als ihr der Gedanke einmal gekommen war, konnte sie ihn sich nicht mehr aus dem Kopf schlagen. Auf den Baum, auf die hohe Birke, die den Dachfirst überragte … die Äste entlang … dort wäre es lustiger als auf dem Dach des Schuppens oder überhaupt irgendeinem Dach. Oh, wenn sie nur dort hingelangen würde!
Und Elli sprang vom Boden auf und rannte zur Birke … Die war dick und die Zweige zu weit oben, sie konnte sie nicht einmal ganz mit den Armen umfassen … Sie kam nicht ran … sie kam nicht ran! Elli ging um die Birke herum und sah sich jeden Ast an, aber keiner war so weit unten, daß sie herangekommen wäre. Wenn sie nur erst einmal auf den tiefsten Ast gelangt wäre, würde sie sicher … Aber auch der war so weit oben, daß ihn niemand erreichen konnte. Und so mußte sie es für diesmal aufgeben und die Birke verlassen …
Aber der Wunsch, dorthin zu gelangen, trieb sie doch wieder in den Garten.
Und als ihr der Gedanke einmal gekommen war, konnte sie ihn sich nicht mehr aus dem Kopf schlagen. Auf den Baum, auf die hohe Birke, die den Dachfirst überragte … die Äste entlang … dort wäre es lustiger als auf dem Dach des Schuppens oder überhaupt irgendeinem Dach. Oh, wenn sie nur dort hingelangen würde!
Und Elli sprang vom Boden auf und rannte zur Birke … Die war dick und die Zweige zu weit oben, sie konnte sie nicht einmal ganz mit den Armen umfassen … Sie kam nicht ran … sie kam nicht ran! Elli ging um die Birke herum und sah sich jeden Ast an, aber keiner war so weit unten, daß sie herangekommen wäre. Wenn sie nur erst einmal auf den tiefsten Ast gelangt wäre, würde sie sicher … Aber auch der war so weit oben, daß ihn niemand erreichen konnte. Und so mußte sie es für diesmal aufgeben und die Birke verlassen …
Aber der Wunsch, dorthin zu gelangen, trieb sie doch wieder in den Garten.
Dienstag, 3. Oktober 2023
1. Kapitel (E)
Und als Elli sagte, sie könnte natürlich allein die Leiter hinauf und herunter, drohte ihre Mutter ihr Schläge an, wenn sie nicht blieb, wo sie war … und sich nicht mit den Händen festhielt, so lange, bis jemand kam und sie herunterholte.
Und Elli mußte warten, bis der Knecht kam, sie aus der Dachrinne hob und sie auf den Boden setzte.
Sie bekam keine Haue, aber eine ordentliche Strafpredigt. Was wollte sie da oben … auf dem Dach der Vorratskammer … und ohne Erlaubnis?
Sie wollte nur wissen, wieviel von der Welt man von dort sehen konnte … und es war doch so leicht, nach oben zu kommen …
Wieviel von der Welt! … Wenn sie nun gestürzt wäre und sich das Bein gebrochen hätte, dann wäre das die Welt gewesen! … Daran mußte man denken, wenn man so weit kletterte, daß …!
„Mutter, darf ich nie wieder auf das Dach der Vorratskammer? Ich falle schon nicht runter …“
„Nie wieder, merk dir das!“ stieß ihre Mutter wütend hervor und ging in die Küche.
„Ich steige doch wieder auf die Leiter“, sagte Elli zu sich selbst, aber die Bettlerkinder hörten es.
„Gnädige Frau!“ riefen sie. „Sie will immer noch die Leiter hinaufklettern …“
Jetzt wurde ihre Mutter erst richtig wütend. „Immer noch auf die Leiter … nicht einmal auf die unterste Stufe … mit keinem einzigen Fuß … merk dir das!“
Elli brach in Tränen aus und ging in ihr Zimmer, um sich auszuweinen. Von dort aus ging sie in den Garten und tat dort dasselbe … Sie durfte nie wieder auf das Dach der Vorratskammer steigen … nicht mehr bis zum Strand, über die Felder und bis zur Landstraße schauen, wo Menschen unterwegs waren … und nicht mehr so allein sein, daß niemand sie sah!
„Warum ist diese Welt so ein Jammertal?“ Das hatte sie ihre Mutter manchmal seufzen hören, und ihr war danach, genau dasselbe zu seufzen.
Und sie fühlte sich fast erwachsen. Angst stieg in ihr auf. Die Tränen trockneten, als sie im Garten bei der Birke stand und die Rinde abfledderte.
Die Zeit verging, und Elli kniff den Mund zusammen, warf sich rücklings auf den Rasen und verschränkte die Hände unter dem Kopf. Und dort hockte sie lange mit zusammengekniffenem Mund und dachte, daß man sie nun nicht mehr in luftiger Höhe finden würde, wenn man sie suchte … und sie brauchten nicht zu befürchten, daß sie hier herunterfallen würde … pff, wirklich nicht!
Und Elli mußte warten, bis der Knecht kam, sie aus der Dachrinne hob und sie auf den Boden setzte.
Sie bekam keine Haue, aber eine ordentliche Strafpredigt. Was wollte sie da oben … auf dem Dach der Vorratskammer … und ohne Erlaubnis?
Sie wollte nur wissen, wieviel von der Welt man von dort sehen konnte … und es war doch so leicht, nach oben zu kommen …
Wieviel von der Welt! … Wenn sie nun gestürzt wäre und sich das Bein gebrochen hätte, dann wäre das die Welt gewesen! … Daran mußte man denken, wenn man so weit kletterte, daß …!
„Mutter, darf ich nie wieder auf das Dach der Vorratskammer? Ich falle schon nicht runter …“
„Nie wieder, merk dir das!“ stieß ihre Mutter wütend hervor und ging in die Küche.
„Ich steige doch wieder auf die Leiter“, sagte Elli zu sich selbst, aber die Bettlerkinder hörten es.
„Gnädige Frau!“ riefen sie. „Sie will immer noch die Leiter hinaufklettern …“
Jetzt wurde ihre Mutter erst richtig wütend. „Immer noch auf die Leiter … nicht einmal auf die unterste Stufe … mit keinem einzigen Fuß … merk dir das!“
Elli brach in Tränen aus und ging in ihr Zimmer, um sich auszuweinen. Von dort aus ging sie in den Garten und tat dort dasselbe … Sie durfte nie wieder auf das Dach der Vorratskammer steigen … nicht mehr bis zum Strand, über die Felder und bis zur Landstraße schauen, wo Menschen unterwegs waren … und nicht mehr so allein sein, daß niemand sie sah!
„Warum ist diese Welt so ein Jammertal?“ Das hatte sie ihre Mutter manchmal seufzen hören, und ihr war danach, genau dasselbe zu seufzen.
Und sie fühlte sich fast erwachsen. Angst stieg in ihr auf. Die Tränen trockneten, als sie im Garten bei der Birke stand und die Rinde abfledderte.
Die Zeit verging, und Elli kniff den Mund zusammen, warf sich rücklings auf den Rasen und verschränkte die Hände unter dem Kopf. Und dort hockte sie lange mit zusammengekniffenem Mund und dachte, daß man sie nun nicht mehr in luftiger Höhe finden würde, wenn man sie suchte … und sie brauchten nicht zu befürchten, daß sie hier herunterfallen würde … pff, wirklich nicht!
1. Kapitel (D)
Der Weg von der Küche in die Stube führte durch die Vorratskammer. Dort herrschte immer reges Kommen und Gehen, aber niemand achtete darauf, was auf dem Dach vor sich ging. Man ging in die Vorratskammer, die Tür knallte, und das Geschirr in der Kammer klapperte, aber keiner von ihnen ahnte, wer auf dem Dach war … obwohl sie dort auf dem Bauch lag und sie alle von Kopf bis Fuß musterte. Auch die Mutter ging oft in die Vorratskammer, aber auch sie bemerkte nichts …. manchmal trug sie etwas, manchmal ging sie mit leeren Händen. Elli konnte sich kaum das Lachen verkneifen, als sie ihre Mutter beobachtete … Wenn sie ganz still sein und ihrer Mutter einen kleinen Holzspan an den Kopf werfen würde … Nein, nein, es war am besten, still zu sein und nicht einmal zu atmen … vielleicht würden sie sie niemals finden, dann konnte sie die ganze Woche hierbleiben … ganz still … sie wußten nicht, wo sie war ...
„Elli!“ rief es plötzlich von unten. „Wo ist Elli? Habt ihr Elli gesehen, Kinder?“
Es war Mutter, die da rief. Elli duckte sich, so tief es ging, und versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, das in ihr aufstieg. Mutter weiß nicht, wo Elli ist … aber Elli sagt es auch nicht … sollen sie doch erst mal suchen … was denken sie, wo sie ist …?
„Kinder, hört mal, habt ihr Elli gesehen?“
„Nein!“
„Geht sie suchen … im Garten oder …“
Die Kinder liefen los, um zu suchen.
Sollen sie suchen … Elli gibt keinen Ton von sich!
Die Mutter wartete vor dem Keller, und die Kinder kamen und sagten, daß Elli nicht im Garten war. Die Mutter befahl ihnen, weiterzusuchen – hinter den Zimmern, am Rand des Feldes, wo auch immer! Aber die Kinder fanden sie nirgendwo …
Da wurde die Mutter unruhig, und sie fing an, aus Leibeskräften zu schreien. „Elli!“ rief sie, und die Kinder schrien mit.
Da brach Elli in Lachen aus, und sie rief nach unten: „Kuckuck!“
Aber weder Mutter noch die anderen merkten etwas, obwohl sie über den Giebel hinwegschaute.
„Wo kam die Stimme her? Habt ihr das gehört, Kinder?“
„Ich hab mich versteckt … auf dem Dach …!“
Jetzt bemerkten sie sie, und sie lachte ungeniert. Und sie dachte, daß die anderen genauso lachen würden …
Aber Mutter wurde so wütend, daß es ihr im ersten Moment die Sprache verschlug. „Mädchen! Du! Komm sofort da runter! Setz dich sofort hin! Du darfst dich nicht rühren!“
„Elli!“ rief es plötzlich von unten. „Wo ist Elli? Habt ihr Elli gesehen, Kinder?“
Es war Mutter, die da rief. Elli duckte sich, so tief es ging, und versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, das in ihr aufstieg. Mutter weiß nicht, wo Elli ist … aber Elli sagt es auch nicht … sollen sie doch erst mal suchen … was denken sie, wo sie ist …?
„Kinder, hört mal, habt ihr Elli gesehen?“
„Nein!“
„Geht sie suchen … im Garten oder …“
Die Kinder liefen los, um zu suchen.
Sollen sie suchen … Elli gibt keinen Ton von sich!
Die Mutter wartete vor dem Keller, und die Kinder kamen und sagten, daß Elli nicht im Garten war. Die Mutter befahl ihnen, weiterzusuchen – hinter den Zimmern, am Rand des Feldes, wo auch immer! Aber die Kinder fanden sie nirgendwo …
Da wurde die Mutter unruhig, und sie fing an, aus Leibeskräften zu schreien. „Elli!“ rief sie, und die Kinder schrien mit.
Da brach Elli in Lachen aus, und sie rief nach unten: „Kuckuck!“
Aber weder Mutter noch die anderen merkten etwas, obwohl sie über den Giebel hinwegschaute.
„Wo kam die Stimme her? Habt ihr das gehört, Kinder?“
„Ich hab mich versteckt … auf dem Dach …!“
Jetzt bemerkten sie sie, und sie lachte ungeniert. Und sie dachte, daß die anderen genauso lachen würden …
Aber Mutter wurde so wütend, daß es ihr im ersten Moment die Sprache verschlug. „Mädchen! Du! Komm sofort da runter! Setz dich sofort hin! Du darfst dich nicht rühren!“
1. Kapitel (C)
Und sie sah sogar die Welt! Ooh! Wo sie überall hinsehen konnte! Bis zum See! Den Strand mit den Booten! Am Strand bei der Wiese war noch ein Mann, der in der Bucht von Lahnalahti ruderte, und im Boot saß ein kleines Mädchen. Weiter weg, auf der anderen Seite des Sees, die hohen Hügel von Iinmäki, wo die Sonne schien. Von dort aus sah man Häuser und gelbliche Felder.
Jenseits des Hofes und des Gartens führte die Landstraße über die Felder bis zur Kirche. Die Landstraße war hinter dem Roggenfeld nicht zu sehen, aber an den Zaunpfählen und den aufsteigenden Staubwolken ließ sich erahnen, wo sie verlief. Elli wäre vor Freude am liebsten gehüpft, weil das niemand wußte und sie so weit wie nur irgend möglich kommen könnte, wenn sie nur die Gelegenheit hätte. Aber sie traute sich nicht, zu hüpfen … sie würden sie sehen und sie wegrufen. Es war am besten, still zu sein, bäuchlings auf dem rutschigen Dach zu liegen und keinen Laut von sich zu geben … „wie eine Grille in der Ritze der Wand“.
Jenseits des Hofes und des Gartens führte die Landstraße über die Felder bis zur Kirche. Die Landstraße war hinter dem Roggenfeld nicht zu sehen, aber an den Zaunpfählen und den aufsteigenden Staubwolken ließ sich erahnen, wo sie verlief. Elli wäre vor Freude am liebsten gehüpft, weil das niemand wußte und sie so weit wie nur irgend möglich kommen könnte, wenn sie nur die Gelegenheit hätte. Aber sie traute sich nicht, zu hüpfen … sie würden sie sehen und sie wegrufen. Es war am besten, still zu sein, bäuchlings auf dem rutschigen Dach zu liegen und keinen Laut von sich zu geben … „wie eine Grille in der Ritze der Wand“.
1. Kapitel (B)
Aber die Zeit verging, und das Mädchen wurde jeden Tag größer. Die nächste dicke Sprosse war die achte, und die befand sich auf der gleichen Höhe wie der Giebel der Vorratskammer. Von dort aus vorsichtig auf das Dach der Vorratskammer, ganz am Rand und mit einem leichten Unbehagen in der Herzgegend, falls Mutter es sehen und sie rufen würde.
Aber die Mutter sah sie nicht und die Kinder auf der Treppe auch nicht. Und als sie erst einmal auf dem Dach des Schuppens war, sah niemand sie. Dort konnte sie bleiben, solange sie wollte, auf dem rutschigen Dach im warmen Sonnenschein.
1. Kapitel (A)
Sie hieß Elli.
Schon als kleines Kind wollte sie auf die Leiter klettern, zuerst auf die unterste Sprosse, dann auf die zweite, die dritte und zuletzt auf die vierte Sprosse, die dicker war als die anderen. Und von dort aus zur Küchentreppe hinunterschauen, wo die Bettlerkinder spielten, und weiter über den Hof, in dessen Mitte Musti zusammengerollt lag. Mehr sah man nicht, denn auf der einen Seite befand sich die Wand der Veranda und auf der anderen der Eingang der Vorratskammer. Weiter hinauf wagte sie sich nicht, obwohl die nächste Sprosse, die genauso dick war wie die vierte, nur ein kleines Stück entfernt war, und von dort aus hätte sie über das Dach der Vorratskammer hinwegschauen können.
Sie hatte nicht lange Freude daran. Das Kindermädchen merkte, was sie machte, holte sie von der Leiter und brachte sie weg. Tränenreiche Proteste halfen nichts.
Schon als kleines Kind wollte sie auf die Leiter klettern, zuerst auf die unterste Sprosse, dann auf die zweite, die dritte und zuletzt auf die vierte Sprosse, die dicker war als die anderen. Und von dort aus zur Küchentreppe hinunterschauen, wo die Bettlerkinder spielten, und weiter über den Hof, in dessen Mitte Musti zusammengerollt lag. Mehr sah man nicht, denn auf der einen Seite befand sich die Wand der Veranda und auf der anderen der Eingang der Vorratskammer. Weiter hinauf wagte sie sich nicht, obwohl die nächste Sprosse, die genauso dick war wie die vierte, nur ein kleines Stück entfernt war, und von dort aus hätte sie über das Dach der Vorratskammer hinwegschauen können.
Sie hatte nicht lange Freude daran. Das Kindermädchen merkte, was sie machte, holte sie von der Leiter und brachte sie weg. Tränenreiche Proteste halfen nichts.
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