Sonntag, 28. April 2024

5. Kapitel (G)

Und abends beim Schlafengehen, als der Vater schon gegangen war, bekam Elli, die in den kalten fremden Laken lag, eine solche Sehnsucht nach der Mutter, daß sie in Tränen ausbrach und sich die Decke über die Ohren zog, damit sie in Ruhe weinen konnte und niemand es hörte. Bevor sie einschlief, hatte sie das Gefühl, ein Dummkopf zu sein, den jeder übertreffen konnte, und nichts zu können.

Samstag, 27. April 2024

5. Kapitel (F)

Elli saß das Weinen in der Kehle, sie fühlte sich so schutzlos, dort allein am Rand. So fühlte sie sich auch jetzt, als sie wieder am Tisch saß, obwohl ihr Vater dabei war. Die ganze Gestalt dieser fremden Frau, ihr blasses Gesicht mit den regelmäßigen Zügen, das sorgsam gekämmte Haar und ihre wohlgesetzte Art zu reden – so wie man ein Buch lesen würde – die langen dünnen Finger – all das war so trist und kalt und düster, daß der Gedanke, hier allein zurückzubleiben, sie in Angst und Schrecken versetzte. Das schimmernde weiße Tischtuch, die silbernen Messer und die ordentlich geschnittenen Brotscheiben – all das hatte etwas an sich, das ihr den Mut und das Selbstvertrauen völlig raubte.

Sonntag, 14. Januar 2024

5. Kapitel (E)

Der Gang war lang und dunkel, und es hallte in ihm wider wie in einem Keller, sobald man sich nur ein wenig rührte. Die Tür öffnete sich ein wenig und wurde dann noch härter zugeschlagen. Man hörte Schritte näherkommen, und als sie am anderen Ende des Flurs waren, schien es Elli, als wäre es eine ganze Schar von Kirchgängern, die da kam. Aber es waren nur drei, vier Mädchen, so groß wie sie, die an ihr vorbeiliefen. Als sie sie bemerkten, blieben sie stehen und sahen sie an, flüsterten sich etwas zu und liefen dann lachend weiter.

Dienstag, 19. Dezember 2023

5. Kapitel (D)

„Sie können sicher sein, Herr Pastor“, versicherte das Fräulein und rückte sich die Brille zurecht, „daß wir unser Bestes tun werden … und wenn sie die Ausbildung hinter sich hat und nach Hause zurückkehrt, hoffen wir … prost, Herr Pastor! … daß sie alle Ihre Erwartungen erfüllt …“
Der Vater verbeugte sich und stieß mit dem Fräulein an. „Davon bin ich überzeugt und lasse meine Tochter voller Vertrauen Ihrer Obhut an.“
Auch Elli saß am Tisch, aber sie konnte weder essen noch trinken … zu reden brauchte sie zum Glück nicht. Sie saß mit gefalteten Händen da, starrte auf ihren beinahe leeren Teller und hielt das Weinen zurück. Es war alles so … so … ihr war, als würde sie am liebsten aufhören zu atmen.
Elli war mit ihrem Vater zu der Schulleiterin gegangen, und während Vater mit der Direktorin sprach, hatte Elli allein auf dem Gang gestanden.

Samstag, 25. November 2023

5. Kapitel (C)

Der Vater war zu beiden außerordentlich liebenswürdig, er sprach so gewählt und höflich, wie man es auf dem Lande nie erlebte. Er erinnerte sich an seine Studienzeit und versicherte Elli, daß man selten so kultivierte, intelligente Frauen treffe. Elli sagte nichts dazu. Die Direktorin und die andere Frau hatten ihr die Wange getätschelt, aber ihre Hände hatten sich so kalt angefühlt, daß Elli zurückgeschreckt war. Am Tag vor Vaters Heimreise zog Elli zu ihrer neuen „Tante“, und der Vater war zum Mittagessen eingeladen. Man unterhielt sich angeregt und war in allen Dingen einer Meinung.

Samstag, 18. November 2023

5. Kapitel (B)

Aber die Ankunft in der Stadt begeisterte Elli überhaupt nicht. Es war … alles genauso platt wie zu Hause … Der Vater konnte seine Tochter nicht so gut plazieren, wie er gehofft hatte. Er wollte, daß Elli bei der Schulleiterin wohnte, doch dort waren alle Plätze belegt. Aber die Direktorin, eine höfliche, in jeder Hinsicht regelkonforme Frau mit überaus weißen Zähnen, versicherte, es sei gut, wenn Elli dort leben würde, wo sie es vorschlug. Und die Schulleiterin empfahl eine Lehrerin aus dem Institut. Die war genauso höflich, formell und hatte genauso weiße Zähne wie die Direktorin.

Donnerstag, 16. November 2023

5. Kapitel (A)

Die ganze Zeit über, in der sie Richtung Stadt fuhren, hatte Elli ein Bild im Kopf, das sich ihr eingeprägt hatte. Je näher das Schiff der Stadt kam, desto mehr Hügel erschienen an den Ufern der Seen. In der Ferne wurden noch mehr sichtbar, und Häuser und Wiesen leuchteten im Glanz der Abendsonne.
Elli war oft im Begriff gewesen, zu fragen, was von alledem die Stadt war, als sie gehört hatte, daß sie bald in der Stadt sein würden, aber sie war nicht dazu gekommen. Der Vater war die ganze Fahrt über guter Laune gewesen, hatte Elli Süßigkeiten gegeben und ihr alles gezeigt.
„Da ist sie nun, Elli – die Stadt. Sag, wo sie ist!“
„Da“, sagte Elli und wies auf einen herrlichen Hügel, auf dessen Gipfel und Abhängen Häuser und grüne Felder zu sehen waren.
„Nein, nein“, sagte der Vater, „nicht da! Sieh nur, dort, am Fuße des Hügels … siehst du, da ist sie!“
„Pfui! Warum baut man da eine Stadt hin?“
„Wo hätte man sie denn sonst hinbauen sollen?“
„Oben auf den Hügel … so hätte ich es gemacht …“
„Du hättest sie auf den Hügel gebaut“, wiederholte der Vater und strich Elli übers Gesicht.

5. Kapitel (G)

Und abends beim Schlafengehen, als der Vater schon gegangen war, bekam Elli, die in den kalten fremden Laken lag, eine solche Sehnsucht nach...