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Es werden Posts vom November, 2023 angezeigt.

5. Kapitel (C)

Der Vater war zu beiden außerordentlich liebenswürdig, er sprach so gewählt und höflich, wie man es auf dem Lande nie erlebte. Er erinnerte sich an seine Studienzeit und versicherte Elli, daß man selten so kultivierte, intelligente Frauen treffe. Elli sagte nichts dazu. Die Direktorin und die andere Frau hatten ihr die Wange getätschelt, aber ihre Hände hatten sich so kalt angefühlt, daß Elli zurückgeschreckt war. Am Tag vor Vaters Heimreise zog Elli zu ihrer neuen „Tante“, und der Vater war zum Mittagessen eingeladen. Man unterhielt sich angeregt und war in allen Dingen einer Meinung.

5. Kapitel (B)

Aber die Ankunft in der Stadt begeisterte Elli überhaupt nicht. Es war … alles genauso platt wie zu Hause … Der Vater konnte seine Tochter nicht so gut plazieren, wie er gehofft hatte. Er wollte, daß Elli bei der Schulleiterin wohnte, doch dort waren alle Plätze belegt. Aber die Direktorin, eine höfliche, in jeder Hinsicht regelkonforme Frau mit überaus weißen Zähnen, versicherte, es sei gut, wenn Elli dort leben würde, wo sie es vorschlug. Und die Schulleiterin empfahl eine Lehrerin aus dem Institut. Die war genauso höflich, formell und hatte genauso weiße Zähne wie die Direktorin.

5. Kapitel (A)

Die ganze Zeit über, in der sie Richtung Stadt fuhren, hatte Elli ein Bild im Kopf, das sich ihr eingeprägt hatte. Je näher das Schiff der Stadt kam, desto mehr Hügel erschienen an den Ufern der Seen. In der Ferne wurden noch mehr sichtbar, und Häuser und Wiesen leuchteten im Glanz der Abendsonne. Elli war oft im Begriff gewesen, zu fragen, was von alledem die Stadt war, als sie gehört hatte, daß sie bald in der Stadt sein würden, aber sie war nicht dazu gekommen. Der Vater war die ganze Fahrt über guter Laune gewesen, hatte Elli Süßigkeiten gegeben und ihr alles gezeigt. „Da ist sie nun, Elli – die Stadt. Sag, wo sie ist!“ „Da“, sagte Elli und wies auf einen herrlichen Hügel, auf dessen Gipfel und Abhängen Häuser und grüne Felder zu sehen waren. „Nein, nein“, sagte der Vater, „nicht da! Sieh nur, dort, am Fuße des Hügels … siehst du, da ist sie!“ „Pfui! Warum baut man da eine Stadt hin?“ „Wo hätte man sie denn sonst hinbauen sollen?“ „Oben auf den Hügel … so hätte ich es gemac...

4. Kapitel (G)

Das Richtige, Schöne und Edle, das beim Lesen in den hellen Sommernächten so tiefen Eindruck auf ihr Gemüt gemacht hatte, mußte für eine Weile verschwinden. Im Winter war alles vorbei, und es war soviel zu tun, daß die Träume des Sommers vorerst verschwunden blieben. Wenn sie nur nie wiedergekommen wären! Über Elli sagten alle, sie sei das Ebenbild ihrer Mutter. Aber keiner wußte, daß sie auch den Charakter ihrer Mutter geerbt hatte. Und daß sie die gleichen Gedanken und Gefühle hatte, während sie heranwuchs! Immer deutlicher erinnerte sie sich an die frühere Zeit, dachte daran und sah alles ganz klar vor sich. Aber es beunruhigte sie, und sie war immer im Zweifel, wie das Leben des Mädchens auf dieser Welt sich gestalten würde … und ob es gut wäre, wenn es so würde wie ihr eigenes. Wenn sie gewußt hätte, ob es anders werden würde und ob sie selbst anders geworden wäre, wenn alles richtig gewesen wäre … Doch wer wagte zu sagen, daß es so, wie es war, nicht richtig war? Plötzlich quält...

4. Kapitel (F)

Es war falsch, es heimlich zu machen, und trotzdem erinnerte Ellis Mutter sich, daß sie in vielen Sommernächten im Bett gelegen und Bücher gelesen hatte, die ihre Brüder ihr mitgebracht hatten, doch „deren Schöpfer bis zu ihrem Tod Sünden begingen“. Romane! Es wäre schrecklich gewesen, wenn Vater und Mutter das erfahren hätten! Aber die Strafe für die unerlaubte Lektüre war dennoch nicht ausgeblieben. Diese Bücher weckte eine Sehnsucht in ihrer Seele, die immer etwas wollte und es nie bekam. Sie weckten Erwartungen und Wünsche, die sich nie erfüllten, die sie sich aber auch nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Er war ein schöner Mann gewesen, jung, höflich und aus guter Familie, und deshalb hatten Vater und Mutter ihn gemocht, obwohl er für einen Pfarrer etwas zu weltlich gesonnen gewesen war.

4. Kapitel (E)

Aber dann kamen die Zeiten, in denen sie einen dunkelblaues Kleid tragen und ein dunkles Tuch um den Hals binden mußte, während die anderen jungen Mädchen weiße Kattunkleider und weiße Krägen trugen. Es war eine schwere Zeit, und sie war grenzenlos trübsinnig. Wenn am Mittsommerabend in der Nachbarschaft Feuer angezündet wurden, wenn sie die lauten fröhlichen Stimmen der anderen jungen Leute hörte … und nicht hingehen durfte! Daran war nicht zu denken! Die Mutter rief sie ins Zimmer, schloß die Fenster und befahl ihr, ins Bett zu gehen. „Was willst du dort, wo zu Ehren heidnischer Götter die Knochen der ersten Christen verbrannt werden?“

4. Kapitel (D)

Selten durfte sie nach Herzenslust spielen, am Sonntagabend gar nicht, wo sie am meisten Lust gehabt hätte, wenn die Dorfkinder deshalb ins Pfarrhaus kamen. Sie mußte in die Stube gehen, in die stickige Stube, wo Vater in einem Kreis von Leuten saß. Vater las und wollte nicht gestört werden. Es war langweilig, dort zu sitzen, sie wurde schläfrig, und die Augen wollten nicht offenbleiben … aber der strenge Blick ihrer Mutter über den Tisch hinweg ließ sie durchhalten. „Es ist eine Sünde, eine große Sünde“, sagte Mutter, „und Gott sieht von seiner Höhe aus, wer nicht andächtig der Predigt lauscht, sondern seine Gedanken zu weltlichen Dingen abschweifen läßt.“ Und sie versuchte ernsthaft, zuzuhören, auch wenn ihre Gedanken dann und wann in eine andere Richtung gingen: zu den Kälbern im Gehege, an den Strand und auf die Wiesen, auf denen sie Purzelbäume geschlagen hatte.

4. Kapitel (C)

Es war Abend, es dämmerte, und sie saß in ihrem Zimmer, die Hände im Schoß, und dachte all das und schaute aus dem Fenster. Von dort aus sah man den friedlichen tristen Herbsthimmel, der sich zwischen den gelben Birkenblättern zeigte … Ihr Blick blieb an einem Punkt hängen, während die Gedanken ihre eigenen Wege gingen. Das Leben war doch seltsam, wenn man es bedachte. Erst die Kindheit, an die sie sich meistens nur dunkel erinnerte, aber ab und zu auch ganz klar. Doch es hatte auch bittere Erfahrungen gegeben … und in vieler Hinsicht war ihre Kindheit so gewesen wie die von Elli. Die Eltern waren damals streng gewesen, man mußte sich nach dem richten, was einem gesagt wurde, und wenn man es nicht tat, bekam man die Folgen schmerzhaft zu spüren.

4. Kapitel (B)

Aber schließlich dachte sie, daß man eben ist, lebt und heranwächst, alles geht, wie es geht! Was der Rand der Welt vernichtet, das vernichtet er eben ... und natürlich muß jeder nehmen, was ihm gegeben wird. Und was konnte sie überhaupt noch tun? Auf die Erziehung hatte sie nur noch wenig Einfluß, die lag nun in den Händen anderer. Und wenn diese anderen sich besser darauf verstanden, die es wagten, die Kinder anderer in ihre Obhut zu nehmen … dann waren sie wohl sicher. Und die Mutter empfand plötzlich eine seltsame Müdigkeit in ihrem ganzen Dasein, sowohl im Körper als auch in der Seele ...Die hatte sie schon früher ab und zu verspürt, doch jetzt war das Gefühl stärker als je zuvor.

4. Kapitel (A)

Die Mutter hatte in jener Nacht gehört, daß Elli am nächsten Morgen zur Schule gehen würde, was sie im Schlaf gesehen hatte und wie sie sich das Leben in der Stadt vorstellte. Und wieder wußte sie nicht, ob ihr gefiel oder nicht, was sie gehört hatte. Das Mädchen hatte im Schlaf gesprochen – die ganze Zeit nur über die Stadt und den Aufbruch dorthin. Und sie hatte die gleichen Träume gehabt wie früher. Wieder hohe Hügel, viel von der Welt und hohe Bäume! Und die Freude daran, in den Baumkronen zu sitzen und „Kuckuck“ zu rufen! Und nun war sie abgereist, war auf dem Weg in die Stadt und würde bald sehen, wie es war … und ob es so war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Mutter bekam plötzlich Mitleid mit dem Mädchen, als sie daran dachte, wie sehr sie sich vielleicht in ihren Phantasien getäuscht hatte. Und dort begann nun die Unterwerfung, dachte sie. Aber wieder wußte sie nicht, was besser war, früher oder später? Und das war der ewige Zweifel, der ihr immer kam.