Dienstag, 14. November 2023

4. Kapitel (G)

Das Richtige, Schöne und Edle, das beim Lesen in den hellen Sommernächten so tiefen Eindruck auf ihr Gemüt gemacht hatte, mußte für eine Weile verschwinden. Im Winter war alles vorbei, und es war soviel zu tun, daß die Träume des Sommers vorerst verschwunden blieben. Wenn sie nur nie wiedergekommen wären! Über Elli sagten alle, sie sei das Ebenbild ihrer Mutter. Aber keiner wußte, daß sie auch den Charakter ihrer Mutter geerbt hatte. Und daß sie die gleichen Gedanken und Gefühle hatte, während sie heranwuchs! Immer deutlicher erinnerte sie sich an die frühere Zeit, dachte daran und sah alles ganz klar vor sich. Aber es beunruhigte sie, und sie war immer im Zweifel, wie das Leben des Mädchens auf dieser Welt sich gestalten würde … und ob es gut wäre, wenn es so würde wie ihr eigenes. Wenn sie gewußt hätte, ob es anders werden würde und ob sie selbst anders geworden wäre, wenn alles richtig gewesen wäre … Doch wer wagte zu sagen, daß es so, wie es war, nicht richtig war? Plötzlich quälte ihr Gewissen sie. Es ist falsch, zu hadern und unzufrieden zu sein, und sei es nur ein bißchen. Und wußte nicht Er es für jeden am besten einzurichten, Er, der alles lenkt? Sie hatte einen schlimmen Fehler gemacht! Was für eine Sünde hatte sie mit ihren Gedanken begangen! Und sündige Gedanken waren genauso schlimm wie sündige Taten! Nein, nein! Falsch war es, falsch, auch wenn man nur in Gedanken die Schwüre brach, die man auf Gedeih und Verderb halten wollte … Und die Mutter vergaß alles andere über ihrem eigenen Kummer. Sie vergaß ihre Tochter und die Sorge um sie und dachte nur daran, was sie antworten würde, wenn sie plötzlich vor ihren Richter gerufen würde und man von ihr Rechenschaft verlangen würde. Und sie spürte, daß sie nicht bereit war, sich zu verantworten, jedenfalls noch nicht. Wenn die göttliche Gnade ihr keine Zeit gab, würde es schlecht ausgehen. Die Mutter suchte in der Dämmerung im Regal nach der Postille ihrer verstorbenen Mutter und fing an, darin zu blättern. „Lies immer das Wort Gottes!“ Das hatte man ihr zu Haus gesagt, doch den Rat hatte sie leider oft vergessen und vernachlässigt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

5. Kapitel (G)

Und abends beim Schlafengehen, als der Vater schon gegangen war, bekam Elli, die in den kalten fremden Laken lag, eine solche Sehnsucht nach...