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5. Kapitel (E)

Der Gang war lang und dunkel, und es hallte in ihm wider wie in einem Keller, sobald man sich nur ein wenig rührte. Die Tür öffnete sich ein wenig und wurde dann noch härter zugeschlagen. Man hörte Schritte näherkommen, und als sie am anderen Ende des Flurs waren, schien es Elli, als wäre es eine ganze Schar von Kirchgängern, die da kam. Aber es waren nur drei, vier Mädchen, so groß wie sie, die an ihr vorbeiliefen. Als sie sie bemerkten, blieben sie stehen und sahen sie an, flüsterten sich etwas zu und liefen dann lachend weiter.

5. Kapitel (D)

„Sie können sicher sein, Herr Pastor“, versicherte das Fräulein und rückte sich die Brille zurecht, „daß wir unser Bestes tun werden … und wenn sie die Ausbildung hinter sich hat und nach Hause zurückkehrt, hoffen wir … prost, Herr Pastor! … daß sie alle Ihre Erwartungen erfüllt …“ Der Vater verbeugte sich und stieß mit dem Fräulein an. „Davon bin ich überzeugt und lasse meine Tochter voller Vertrauen Ihrer Obhut an.“ Auch Elli saß am Tisch, aber sie konnte weder essen noch trinken … zu reden brauchte sie zum Glück nicht. Sie saß mit gefalteten Händen da, starrte auf ihren beinahe leeren Teller und hielt das Weinen zurück. Es war alles so … so … ihr war, als würde sie am liebsten aufhören zu atmen. Elli war mit ihrem Vater zu der Schulleiterin gegangen, und während Vater mit der Direktorin sprach, hatte Elli allein auf dem Gang gestanden.

5. Kapitel (C)

Der Vater war zu beiden außerordentlich liebenswürdig, er sprach so gewählt und höflich, wie man es auf dem Lande nie erlebte. Er erinnerte sich an seine Studienzeit und versicherte Elli, daß man selten so kultivierte, intelligente Frauen treffe. Elli sagte nichts dazu. Die Direktorin und die andere Frau hatten ihr die Wange getätschelt, aber ihre Hände hatten sich so kalt angefühlt, daß Elli zurückgeschreckt war. Am Tag vor Vaters Heimreise zog Elli zu ihrer neuen „Tante“, und der Vater war zum Mittagessen eingeladen. Man unterhielt sich angeregt und war in allen Dingen einer Meinung.

5. Kapitel (B)

Aber die Ankunft in der Stadt begeisterte Elli überhaupt nicht. Es war … alles genauso platt wie zu Hause … Der Vater konnte seine Tochter nicht so gut plazieren, wie er gehofft hatte. Er wollte, daß Elli bei der Schulleiterin wohnte, doch dort waren alle Plätze belegt. Aber die Direktorin, eine höfliche, in jeder Hinsicht regelkonforme Frau mit überaus weißen Zähnen, versicherte, es sei gut, wenn Elli dort leben würde, wo sie es vorschlug. Und die Schulleiterin empfahl eine Lehrerin aus dem Institut. Die war genauso höflich, formell und hatte genauso weiße Zähne wie die Direktorin.

5. Kapitel (A)

Die ganze Zeit über, in der sie Richtung Stadt fuhren, hatte Elli ein Bild im Kopf, das sich ihr eingeprägt hatte. Je näher das Schiff der Stadt kam, desto mehr Hügel erschienen an den Ufern der Seen. In der Ferne wurden noch mehr sichtbar, und Häuser und Wiesen leuchteten im Glanz der Abendsonne. Elli war oft im Begriff gewesen, zu fragen, was von alledem die Stadt war, als sie gehört hatte, daß sie bald in der Stadt sein würden, aber sie war nicht dazu gekommen. Der Vater war die ganze Fahrt über guter Laune gewesen, hatte Elli Süßigkeiten gegeben und ihr alles gezeigt. „Da ist sie nun, Elli – die Stadt. Sag, wo sie ist!“ „Da“, sagte Elli und wies auf einen herrlichen Hügel, auf dessen Gipfel und Abhängen Häuser und grüne Felder zu sehen waren. „Nein, nein“, sagte der Vater, „nicht da! Sieh nur, dort, am Fuße des Hügels … siehst du, da ist sie!“ „Pfui! Warum baut man da eine Stadt hin?“ „Wo hätte man sie denn sonst hinbauen sollen?“ „Oben auf den Hügel … so hätte ich es gemac...

4. Kapitel (G)

Das Richtige, Schöne und Edle, das beim Lesen in den hellen Sommernächten so tiefen Eindruck auf ihr Gemüt gemacht hatte, mußte für eine Weile verschwinden. Im Winter war alles vorbei, und es war soviel zu tun, daß die Träume des Sommers vorerst verschwunden blieben. Wenn sie nur nie wiedergekommen wären! Über Elli sagten alle, sie sei das Ebenbild ihrer Mutter. Aber keiner wußte, daß sie auch den Charakter ihrer Mutter geerbt hatte. Und daß sie die gleichen Gedanken und Gefühle hatte, während sie heranwuchs! Immer deutlicher erinnerte sie sich an die frühere Zeit, dachte daran und sah alles ganz klar vor sich. Aber es beunruhigte sie, und sie war immer im Zweifel, wie das Leben des Mädchens auf dieser Welt sich gestalten würde … und ob es gut wäre, wenn es so würde wie ihr eigenes. Wenn sie gewußt hätte, ob es anders werden würde und ob sie selbst anders geworden wäre, wenn alles richtig gewesen wäre … Doch wer wagte zu sagen, daß es so, wie es war, nicht richtig war? Plötzlich quält...

4. Kapitel (F)

Es war falsch, es heimlich zu machen, und trotzdem erinnerte Ellis Mutter sich, daß sie in vielen Sommernächten im Bett gelegen und Bücher gelesen hatte, die ihre Brüder ihr mitgebracht hatten, doch „deren Schöpfer bis zu ihrem Tod Sünden begingen“. Romane! Es wäre schrecklich gewesen, wenn Vater und Mutter das erfahren hätten! Aber die Strafe für die unerlaubte Lektüre war dennoch nicht ausgeblieben. Diese Bücher weckte eine Sehnsucht in ihrer Seele, die immer etwas wollte und es nie bekam. Sie weckten Erwartungen und Wünsche, die sich nie erfüllten, die sie sich aber auch nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Er war ein schöner Mann gewesen, jung, höflich und aus guter Familie, und deshalb hatten Vater und Mutter ihn gemocht, obwohl er für einen Pfarrer etwas zu weltlich gesonnen gewesen war.