5. Kapitel (I)

Auch zu Hause wollte die anfängliche Scheu nicht verschwinden. Sie hatte immer noch Angst, daß sie, wenn sie sich rührte, einen Stuhl umstoßen oder den Teppich schmutzigmachen würde. Oder daß beim Reden ihre Stimme zu laut klingen würde und die ordnungsbewußte Tante sie vorwurfsvoll ansehen würde.
Als sie schlafenging, löste sich das Heimweh, das sich im Laufe des Tages in ihrer Herzgegend angesammelt hatte, in bitterlichem Weinen, noch bitterlicher als das von gestern abend. Und auch jetzt erleichterte es sie nur wenig, sondern machte es nur noch schlimmer. Und als sie das einsame kleine Bett sah, empfand sie eine solche Beklemmung, daß sie sich gegen den Tisch lehnte und die Faust auf den Mund drückte, damit kein Schrei aus ihrer Kehle kam. Und als es doch herauskam, mußte sie ins Bett eilen und es im Kissen ersticken.
Sie bekam das Gefühl, daß sie an diesem Ort sterben würde, wenn sie nicht nach Hause käme, und dieses Leben nicht bis zum morgigen Tag aushalten würde. Sie mußte wieder zur Schule gehen, alle sahen sie an … wo sie nicht sein konnte und nicht wußte, wo sie sich hinsetzen sollte … sie würden ihr einen Platz zuweisen und Ratschläge geben, aber nichts verstehen, und die anderen Mädchen schauten zu und lachten untereinander …
Und wieder kam die Beklemmung, und es war, als würde sie daran zerbrechen …
Sie geht, geht jetzt sofort zurück nach Hause! Sie flieht von hier und geht zu Fuß, und fragt sich, in welcher Richtung ihr Zuhause liegt … Aber draußen regnete und stürmte es, und das machte ihr Angst. Und dann erkannte sie, daß sie vielleicht nicht wagen würde, wegzulaufen, auch wenn es ihr das Herz abdrückte und das Gefühl sich im ganzen Körper ausbreitete …
Aber sie schreibt einen Brief nach Hause an ihre Mutter, daß Mutter kommen und sie holen soll … und bis Mutter kommt, geht sie nicht in die Schule und verläßt das Zimmer überhaupt nicht und ißt auch nichts. Sie bleibt hier … die Decke über den Kopf gezogen … bis dahin …
Elli weinte sich in den Schlaf und schlief bis zum nächsten Morgen. Und sie träumte, daß sie zu Hause im Bett ihrer Mutter lag … das mit dem Rücken an der Wand stand … das ganze Mädchen zusammengerollt, den Kopf auf der Ecke des Kissens der Mutter. Und dann träumte sie, daß sie wieder zu Hause war. Als sie morgens aufwachte, konnte sie sich zunächst nicht erinnern, wo sie war. Aber als ihr Blick auf das Fenster fiel, sah sie die Tante, die in ihrem Morgenkleid draußen spazierenging und die Blumen anschaute. Und dann fiel ihr auch alles andere wieder ein. Wieder saß ihr das Weinen in der Kehle, doch dann bekam sie Angst, daß die Tante kommen und sehen würde, daß sie auf der Decke gelegen hatte, und deshalb vielleicht böse werden würde. Denn Elli hatte das Gefühl, daß das schlimm war, und sie wußte nicht, wie es wäre, wenn ein fremder Mensch böse auf sie sein würde.
In der Schule war es an diesem Tag etwas besser, sie wußte, daß sie auf ihrem Platz sitzenbleiben mußte und wann sie aufstehen und antworten mußte. Sie weinte nicht, und die anderen schauten sie auch nicht mehr an. Dann gingen alle Mädchen, die im gleichen Zimmer wie Elli gesessen hatten, in der Turnstunde spazieren, und Elli durfte sich die Stadt ansehen.
Und als abends das Weinen wiederkommen wollte, kam es nicht weit. Sie war müde und schlief vorher ein.
Im Laufe des nächsten Tages begann sie, sich ein wenig an dieses Leben zu gewöhnen. Und als sie Hausaufgaben machen mußte, hatte sie gar keine Zeit, Heimweh zu haben oder an etwas anderes zu denken. Das Weinen war trotzdem nicht weit, die Kehle nicht freier.

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